Helga König im Gespräch mit dem Rechtsanwalt Serkan Kirli

Lieber Serkan Kirli, Sie sind Rechtsanwalt in Köln und dokumentieren auf Ihrem Twitteraccount Ihre menschenfreundliche, faire und dabei kosmopolitische Haltung. 

Helga König: Was fällt Ihnen spontan zum Thema "friedliches Miteinander" ein? 

 Serkan Kirli
Serkan Kirli: "Friedliches Miteinander" bedeutet für mich in erster Linie, dass man mutig aufeinander zugeht und dabei versucht, voneinander etwas zu lernen. Es geht nicht darum, so zu werden wie sein Gegenüber, auch nicht darum, die eigenen Werte, die eigene Lebensweise, die eigenen Ideale und Meinungen aufzugeben. Es geht nur darum, zu verstehen und nachzuvollziehen, und sich einfühlen zu können. Ich denke "Empathie" ist das Zauberwort. Solange keine Empathie für andere Menschen bzw. Gruppen entwickelt wird, ist auch eine tolerante Haltung anderen gegenüber nicht möglich. Und ohne Toleranz kann man keine Vorurteile bekämpfen. Man glaubt friedlich miteinander zu leben, lebt aber – wenn überhaupt - hauptsächlich friedlich nebeneinander. Man hat eine subjektive Vorstellung von dem anderen, ohne jedoch auf den Betreffenden zuzugehen oder ohne sich für ihn in irgendeiner Form zu interessieren. Es gilt, sich vom Anspruch, anderen immer vorgeben zu wollen, was wahr und falsch ist, wie sie sich zu fühlen haben, ja wann sie sogar gekränkt sein dürfen, loszulösen. Mit dieser Anmaßung und Überheblichkeit muss  endlich Schluss sein 

 Helga König
Helga König: ... und was zum Thema geglückte Integration? 

Serkan Kirli: Da gibt es noch viel zu tun. Geglückte Integration bedeutet für mich immer noch Zielbestimmung. Wenn man auf einer Reise ist, sollte man zumindest wissen, wohin die Reise geht. Das gleiche gilt auch für die Integration. Seit knapp 20 Jahren wird immer zunehmend darüber diskutiert, ob die Integration gelungen oder gescheitert ist, ohne dabei den Integrationsbegriff definieren zu können. Integration ist ein ausfüllungsbedürftiger Begriff, also eine Lücke, die gefüllt werden muss. Wann kann man noch von Integration sprechen und was ist die Schwelle zur Assimilation erreicht? 

Es wurde in der Vergangenheit der Begriff "Leitkultur" ins Spiel gebracht. Kultur hat etwas Dynamisches und ist wandelnd. Was heute kulturell gern gesehen wird, kann in 30 Jahren auf Abneigung stoßen. Die freiheitliche Werteordnung, die verfassungsmäßige Rechtsordnung, sowie die deutsche Sprache sollten unsere kleinsten gemeinsamer Nenner sein. Die Sprache sollte übrigens jeder schon aus eigenem Interesse lernen. Alles andere ist relativ und vor allem auch sehr dehnbar. 

Helga König: Wodurch haben sich Ihre ethischen Überzeugungen, die man immer wieder Ihren Tweets entnehmen kann, entwickelt, durch Ihr Elternhaus, die Schule, das Studium, die Religion, Ihre Freunde? 

 Serkan Kirli
Serkan Kirli: Ich denke alles, das Elternhaus, die Schule, das Studium, alles hat eine gewisse Rolle gespielt. Aber auch die seit mehr als 15 Jahren in der Türkei regierende AKP hat nicht in unerheblicher Weise dazu beigetragen, dass meine heutigen Ansichten so sind, wie sie sind. Zum ersten Mal konnte ich nachempfinden, wie es Mitgliedern anderer Gruppen, die sich ständig zu Recht diskriminiert fühlen, gehen muss. Wenn vom "Volk" die Rede ist, meint man oft die eigene Wählerschaft und ignoriert die andere Hälfte des Landes. Ich habe dann immer mehr versucht, unvoreingenommener zu sein und mich in die Lage von anderen zu versetzen. Ich denke es ist mir mehr oder weniger gelungen, mich von schematischen und verfestigten Denkweisen zu befreien.

 Helga König
Helga König: Am 3.1. 2018 haben Sie folgenden Tweet gepostet: "Obwohl ich der Ansicht bin, dass #Hass und #Hetze mit jedem Tag salonfähiger werden und etwas dagegen unternommen werden muss, bin ich von der Verfassungswidrigkeit des #NetzDG überzeugt. Das Gesetz würde m. E. einer verfassungsgerichtl. Kontrolle durch das #BVerfG nicht standhalten." Würden Sie den Lesern von "Buch, Kultur und Lifestyle" hierzu bitte Näheres erklären? 

Serkan Kirli: Noch vor wenigen Jahren hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass in Deutschland und gerade in Deutschland, gegen gesamte Gruppen als solche so offen gehetzt wird. Als Jurist bin ich jedoch der festen Überzeugung, dass das NetzDG verfassungswidrig ist und gegen die in Art. 5 Abs. 1 GG enthaltenen Grundrechte, insbesondere gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung, verstößt. Zwar ist das Grundrecht auf Meinungsfreiheit nicht schrankenlos gewährt, trotzdem muss jeder Eingriff in das entsprechende Grundrecht auch verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. 

Das NetzDG stellt zweifelsfrei einen Eingriff in das Grundrecht der Meinungsfreiheit dar. Meines Erachtens ist der Eingriff aber nicht gerechtfertigt. Ohne an dieser Stelle rechtsdogmatische Ausführungen vertiefen zu wollen, will ich klarstellen, dass die (vermeintliche) „Wertlosigkeit“ oder auch die „Gefährlichkeit“ von Meinungen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keinen Grund darstellen, Meinungen zu verbieten. Meinungen, die Hass beinhalten oder sonst abstoßend sind, müssen nicht von vornherein verboten oder strafbar sein, sondern können im Einzelfall auch von der Meinungsfreiheit gedeckt sein. Das NetzDG und die darin enthaltene Löschungspflicht ist eine verdeckte "Aufgabendelegation" der Aufgaben der Strafverfolgungsbehörden und der Strafjustiz. Es hätte eines neuen Gesetzes nicht bedurft, wenn von den vorhandenen Mitteln des (Straf-)Rechts ausreichend Gebrauch gemacht worden wäre. Schließlich bin ich auch der Meinung, dass sich das NetzDG eher kontraproduktiv auswirken wird. 

Soweit Hass nicht in strafbarer Weise zum Ausdruck kommt, muss dieser gesellschaftlich und politisch bekämpft werden. 

Helga König: Woher kommen diese unsägliche Hetze und der abgründige Hass, von denen Sie in Ihrem Tweet sprechen nach Ihren Erfahrungen? 

 Serkan Kirli
Serkan Kirli: Ich bin gebürtiger Kölner mit türkischer Abstammung und habe auch in der einen oder anderen Situation Hass in Form von Rassismus erfahren. Hass kann historische, soziale, familiäre und regionale Gründe haben. Der Mensch wird in ein Umfeld hineingeboren, wächst mit den gegebenen sozialen Bedingungen auf und irgendwann wird einem der Hass vermittelt. Und dann wird die Angelegenheit zu einem Charaktertest für den Menschen. Der Einzelne muss dann besondere Eigenschaften, Fähigkeiten haben oder Erfahrungen sammeln, um aus dem Teufelskreis raus zu kommen. Deutschland ist ein Einwanderungsland. Es gab und gibt Gruppierungen von Menschen mit Migrationshintergrund, die sich aufgrund regionaler Konflikte der jeweiligen "Heimatländer" gehasst haben, ohne je auch nur einen einzigen der anderen Seite persönlich gekannt zu haben. Vielen ist es später gelungen, gute Bekanntschaften oder sogar Freundschaften zu schließen. Hass ist ein Gefühl. Das Potenzial für eine Abneigung steckt meines Erachtens in jedem Menschen. 

Nur gilt es dann zumindest zu verhindern, dass die Abneigung nicht die Schwelle des Hasses erreicht. Es ist womöglich sogar ein Gefühl, was man nicht kontrollieren kann. Hass hat es immer gegeben und wird es auch immer geben. Nicht selten finden Menschen schon in der Zugehörigkeit zu einer Gruppe die Berechtigung, andere zu hassen. Das ist der Hass, dem man aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, Nationalität, Religion, Ethnie, "Rasse", Sprache ausgesetzt ist. Hier gilt es den Menschen klarzumachen, dass eine gesamte Ethnie, Religionsgemeinschaft, Nation nicht "böse" oder "gut" sein kann. 

Hierzu ein ein überspitztes Beispiel aus dem Roman "Alexis Sorbas" von Nikos Kazantzakis. Dort heißt es an einer Stelle: "Wenn du wüßtest, Chef, was ich für das Vaterland alles getan habe... . Ich habe gemordet, gestohlen, Dörfer in Brand gesteckt, Frauen vergewaltigt, ganze Familien ausgerottet... Warum? Nur weil es Bulgaren oder Türken waren. ... Jetzt schaue ich mir die Menschen an und sage: Der ist ein guter, jener ein schlechter Mensch." 

Aber daneben gibt es auch den Hass, der unabhängig von einer Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen existiert. Der Mensch findet immer Gründe sich zu hassen. Mal unterstellt, es gäbe nur eine Nation, eine Sprache, eine Religion und ein Land, es hätte trotzdem Menschen gegeben, die sich hassen würden; uns zwar aus Neid, Eifersucht, Habgier, Rache oder sogar wegen nachbarlichen Streitigkeiten. Nach biblischen und koranischen Überlieferungen soll Kain aus Neid seinen Bruder Abel erschlagen haben. Nach monotheistischen Religionen war es der erste Mord der Geschichte. 

 Helga König
Helga König: Sie haben am 1.1.2018 getwittert: "Meine Gedanken sind bei den Demonstranten im #Iran. Dieses menschenverachtende #Mullah-Regime muss weg. Alle Verantwortlichen dieser Schreckensherrschaft sollten anschließend vor unabhängigen Gerichten zur Rechenschaft gezogen werden. #FreeIran #IranProtest. Glauben Sie, dass die westlichen Staaten diesbezüglich etwas bewirken könnten und wenn ja wie? 

Serkan Kirli: Die westlichen Staaten müssten die Oppositionellen, die nach einer Säkularisierung und Demokratisierung des Landes streben, unterstützen. Aber letztendlich kann die Rettung nur vom Volk selber kommen. Diesbezüglich hatte ich vor knapp zwei Wochen einen Tweet verfasst: "Keine Diktatur kann aufrechterhalten werden, wenn das Volk aufsteht. Nicht nur Demokratien, sondern auch Diktaturen leben vom Volkswillen, nur auf eine andere Weise." Das iranische Volk muss sich darüber im Klaren sein, dass es insbesondere im 21. Jahrhundert so eine Staatsform nicht verdient. 

Helga König: Gefallen hat mir Ihr Tweet zum Jahresende 2017: "Vorsätze und Anregungen für's neue #Jahr: "Verbal abrüsten und versuchen, die Dinge etwas sachlicher, ausgewogener und nüchterner zu betrachten. Spitze, spöttische, herabwürdigende, provozierende Äußerungen bringen die Vertreter der jeweiligen Meinungen nur noch weiter auseinander." Wie lassen sich Ihrer Meinung nach Mobber, Trolle, Stalker und politische oder religiöse Extremisten zu dieser Verhaltensänderung bewegen ohne Androhung von Strafen?

 Serkan Kirli
Serkan Kirli: Es muss viel öfter der Versuch unternommen werden, auch vermeintliche "Mobber", "Trolle", "Stalker" und "Extremisten" zu erreichen. Oft erreicht man nämlich nur solche Leute, die man auch erreichen will. Man sollte sich von Trollen und Extremisten nicht beleidigen oder provozieren lassen, aber zugleich sich auch fragen, ob der eigene überhebliche Ton die richtige Umgangsform darstellt. Im Zweifel ist der Diskussionspartner nämlich nicht von seinem Standpunkt abgerückt, ganz im Gegenteil, er ist vielleicht von seiner Meinung und Haltung noch überzeugter als vorher. Insbesondere sollten beispielsweise Inhaber von "großen" Accounts bevor sie einen Tweet verfassen überlegen, was sie damit bezwecken. Und nach den entsprechenden Reaktionen kann der Betreffende immer noch überprüfen ob die Erwartungen sich erfüllt haben oder sich der Tweet sogar doch nicht kontraproduktiv ausgewirkt hat. 

 Helga König
Helga König: Ich teile Ihre Beobachtung: "Es ist nicht einmal die Religion, woran die Menschen glauben. Vielmehr glauben sie an das, was sie zu ihrer Religion gemacht haben; Ehrgeiz, Eifer, Habgier, Intrige, Schadenfreude, Zugehörigkeitsgefühl, Autophobie, ideologische bzw. politische Anschauung, Bräuche, Traditionen." Was müssen wir, die wir dies erkannt haben, tun, um einen neuen Zeitgeist hervorzurufen? 

Serkan Kirli: Religionen gebieten grundsätzlich im Kern, das "Gute" zu tun und das "Böse" zu unterlassen. Vorab sollte man sich darüber im Klaren sein, dass man nur aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion nicht automatisch zu einem besseren Menschen wird. Ethik, Moral, Anstand, Billigkeit, Fairness sind meines Erachtens universell und nicht kultur- oder religionsabhängig. Oft hat jeder seine eigene Vorstellung von Gut und Böse, von "wahr" und „falsch“. Keiner hat Anspruch auf absolute Wahrheit. Das sollte man sich einprägen. Jeder muss im Rahmen seiner "Wahrheit" dem anderen genügend Raum lassen, damit auch er seine "Wahrheit" ausleben kann.

Religion sollte der inneren Ruhe und dem inneren Frieden dienen. Es muss auch nicht unbedingt verkehrt sein, dass Religion oder Glaube Gewissensentscheidungen beeinflussen können. Je mehr aber die Religion instrumentalisiert wird, umso mehr entfernen wir uns vom inneren Frieden. Religion ist dann nicht mehr das Reine, was man sich vorgestellt hatte, sondern nur noch Mittel zum Zweck. Wir müssen uns vielmehr an Säkularität klammern, damit Religion nicht zum Instrument wird und auch immer darauf Acht geben, ob vermeintliche Ge- oder Verbote , von denen immer die Rede ist, auch mit dem Billigkeits- und Gerechtigkeitsgedanken in Einklang zu bringen sind.

Helga König: Müsste Ihrer Meinung nach weltweit mehr über Menschenrechte gesprochen werden, damit alle sich dieser bewusst werden oder was muss geschehen, damit deren Akzeptanz allerorten erhöht wird? 

 Serkan Kirli
Serkan Kirli: Menschenrechte werden in der Regel dort am meisten mit Füßen getreten, wo der Lebensstandard auf niedrigstem Niveau ist. Tor und Tür für Willkür, Korruption, Alleinherrschaft, Diktatur sind dann geöffnet. Es sollte auf jeden Fall weltweit mehr über Menschenrechte gesprochen werden. Um das jedoch zu schaffen, muss gewährleistet sein, dass das Gesprochene auch bei den Menschen ankommt. Genau das dürfte problematisch sein, wenn z.B. ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung des entsprechenden Landes nur die Grundschule besucht hat, weil sie schon im Kindesalter für umgerechnet 50 Euro im Monat Knochenarbeit leisten muss oder 40 Personen sich einen Fernseher teilen müssen. Da dürfte die Debatte über Menschenrechte eher einen „Luxus“ darstellen.

 Helga König
Helga König: Ich teile Ihre Meinung: #Rassismus ist eine, oft vom sozialen Status und Bildungsgrad des Betreffenden unabhängige, kranke und menschenverachtende Gesinnung." Was können wir tun, damit diese kranke und menschenverachtende Gesinnung nicht um sich greift und wie können wir sie heilen? 

Serkan Kirli: Keiner kommt als Rassist auf die Welt. Wie bereits gesagt, es ist eine Krankheit, mit der man sich in irgend einem Abschnitt seines Lebens ansteckt. In vielen Fällen ist diese Krankheit unheilbar. Sie schreitet solange voran, bis sie die die Betreffenden und schließlich auch die Gesellschaft auffrisst. Beispielsweise gab es den Antisemitismus schon seit dem frühen Mittelalter bis in die Weimarer Zeit. Es gab Dichter, Denker und Reformer die antisemitische Ansichten hatten. Auch ihr Intellekt hat nicht ausgereicht, um die "Krankheit" zu heilen. Und es war in der Nachkriegszeit nicht sicherlich so, dass es von heute auf morgen plötzlich keine Antisemiten mehr gab. Das waren bzw. sind Menschen, die hautnah erlebt haben, wozu der Rassenwahn führen kann. Ich kann mich an dieser Stelle nur wiederholen; Menschen müssen aufeinander zugehen, mehr voneinander lernen, Vorurteile beiseitelegen und den Kontakt und die Diskussion nicht scheuen.

Lieber Serkan Kirli, ich danke Ihnen für das aufschlussreiche  Gespräch.

Ihre Helga König

Rechtsänwalte Kirli & Ippolito
Frankfurterstr. 30
51065 Köln
Tel: 0221 / 16954321
Fax:0221 / 16955491
Mail: kanzlei@rae-kirli-ippolito.de

Helga König im Gespräch mit Michael Blochberger, Betreiber des "CIT Institut für Corporate Identity & Teamentwicklung" und des gemeinnützigen Vereins"SinnStifter e.V."

Lieber Michael Blochberger, als ehemaliger Kommunikationsdesigner und Marketingfachmann betreiben Sie seit 20 Jahren das "CIT Institut für Corporate Identity & Teamentwicklung" und verantworten den gemeinnützigen Verein SinnStifter e.V., dessen Zweck die Unterstützung und das Engagement für alternative, zukunftsweisende Wege in der charakter- und persönlichkeitsfördernden Weiterbildung ist. Jeder, der sich mit ihren Websites befasst, erkennt sehr rasch, dass Sie ein Menschenfreund sind und mancherlei bewegen, das zu einem sinnstiftenden Miteinander führen kann.

Helga König: Können Sie unseren Lesern mitteilen, welche Vorgeschichte die Gründung dieses Vereins hat und welche Ziele Sie verfolgen? 

 Michael Blochberger
Michael Blochberger:  Seit 20 Jahren begleite ich Führungskräfte in ihrer persönlichen Entwicklung und erfahre immer wieder aufs Neue, mit welcher Freude Menschen ihre Potentiale entwickeln, wenn sie lernen, ihren Gefühlen zu vertrauen und ihre Ängste zu überwinden. Aber nur wenige Arbeitgeber investieren in die persönliche Entwicklung ihrer Mitarbeiter. 90 bis 95% der Arbeitnehmer erhalten keine Unterstützung und müssen ihre Weiterbildung aus eigener Tasche bezahlen. Die Wenigsten erhalten eine Chance, sich auf die wachsenden Anforderungen am Arbeitsplatz vorzubereiten. SinnStifter e.V. will hier Abhilfe schaffen. 

Wir bieten partnerschaftlichen Austausch mit Gleichgesinnten, professionelle Hilfe durch erfahrene Berater und Coaches, aber auch finanzielle Unterstützung für ihre persönliche Entwicklung. Als gemeinnütziger Verein wollen wir Verantwortung übernehmen und der Spaltung der Gesellschaft entgegenwirken, indem wir neue Wege der Bewusstseins- und Charakterbildung beschreiten. 

 Helga König
Helga König: Sicher interessiert es die Leser auch, was Sie unter gesellschaftlicher Transformation verstehen und weshalb diese dringend erforderlich ist? 

Michael Blochberger:  "Gesellschaftliche Transformation" ist ein Begriff, der für eine fundamentale, bisher unbekannte Umwälzung der Gesellschaft steht. Wie viele andere habe ich keine fertige Vorstellung, wie die Gesellschaft der Zukunft aussehen kann. Nur eins ist klar: Auf die unzähligen Herausforderungen wie Globalisierung, Finanzkrisen, Erderwärmung, Naturkatastrophen, Hungersnöte, Krieg, Terrorismus, Völkerwanderung oder Digitalisierung sind wir nicht vorbereitet. Viele Menschen sind zu Recht verunsichert. Die aktuelle politische Krise in Europa lässt ahnen, was wir zu verlieren haben, wenn wir Moral, Ethik und demokratische Werte dem Nationalismus und Materialismus opfern. Ich bin davon überzeugt, dass Frieden und Demokratie nur zu retten sind, wenn es uns gelingt, den globalen Kapitalismus zu zähmen. Wir benötigen eine radikale Erneuerung in Bildung, Arbeit, Gesundheitswesen, Renten- und Finanzwesen – frei von Machtinteressen! Jeder von uns kann dazu beitragen, dass Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Gemeinschaftssinn und Selbstverantwortung stärker gelebt werden. Wir können das nicht der Politik überlassen. Wir müssen uns selbst dafür stark machen! 

Helga König: Sie bieten in Ihrem Institut eine Reihe interessanter Trainingsprogramme an, so auch ein 3 Tages-Training, wo man konstruktiv mit Humor umzugehen lernt. Können Sie an dieser Stelle kurz skizzieren, weshalb das Lachen, eine solch große Bedeutung für unsere psychologische und mentale Gesundheit hat und möglicherweise zu einem positiveren Miteinander beiträgt? 

 Michael Blochberger
Michael Blochberger:  Humor zählt sicher zu den erfolgreichsten Kommunikationsstrategien der Menschheit. Das gemeinsame Lachen stärkt die Gemeinschaft, hilft Ängste, Niederlagen und Schmerzen zu überwinden. Es schafft Vertrauen und fördert Kreativität und Motivation. Durch das Lachen werden Stresshormone abgebaut und Glückshormone freigesetzt. Das kann zu einem positiven Miteinander beitragen, solange wir miteinander lachen und nicht über andere. Das Lachen ist so etwas wie ein sozialer Klebstoff, es ist aber zu beobachten, dass oft auf Kosten von Minderheiten oder andersartigen Menschen gelacht wird. Der Einsatz von Sarkasmus und Zynismus wirkt dann provozierend und polarisierend. In meinen Humortrainings lernen die Teilnehmer eine liebevolle Haltung zu entwickeln, um zum echten Humor zu finden. Der humorvolle Mensch zeigt seine Reife und Souveränität, indem er Unzulänglichkeiten erkennt und lachend verzeiht – frei von Arroganz und Aggression. Humor ist also letztendlich eine Frage der persönlichen Erfahrung und Reife. 

 Helga König
Helga König: Einer meiner Twitterfollower postete heute "Habe ein bisschen die Musik meiner Kindertage (späte 60er, frühe 70er des XX. Jahrhunderts) getweetet. Merkt Ihr es auch? Diese Lebensfreude, der Optimismus...vorbei.“ Würden Sie diesen Tweet bestätigen und falls ja, haben Sie eine Erklärung für das Phänomen? 

Michael Blochberger: Ich kann den damaligen Optimismus nur bestätigen. Er war getragen von großer Zukunftsgläubigkeit und der Hoffnung auf eine bessere und gerechtere Welt. Tatsächlich verdienen wir heute sehr viel mehr Geld als damals, aber der Optimismus ist uns weitgehend abhanden gekommen. Wir müssen heute feststellen, dass Geld allein nicht glücklich macht. Wichtiger als der Wohlstand an sich scheint uns das Gefühl von Geborgenheit, Gemeinschaftssinn, Mut und Vertrauen. Vieles davon ist uns in den letzten Jahrzehnten abhanden gekommen. Ohne eine Vorstellung, welche höheren Ziele wir anstreben, geht uns der Sinn unseres Tuns verloren. Deshalb bin ich auch davon überzeugt, dass wir mit SinnStifter e.V. einen konstruktiven Beitrag für mehr Sinnerfüllung und Lebensfreude leisten können. 

Helga König: Weshalb ist es so wichtig, Offenheit und Toleranz zu stärken? 

 Michael Blochberger
Michael Blochberger: Realistisch gesehen ist jeder Einzelne von uns in seinen Fähigkeiten zu begrenzt, um allen Herausforderungen unserer komplexen Welt wirklich gewachsen zu sein. Nur in der Vielfalt unterschiedlicher, sich ergänzender Kompetenzen haben wir eine Chance, etwas zu bewirken und tragende Lösungen zu entwickeln. Auf den ersten Blick ist das Andere uns fremd. Wir können die Qualitäten im Anderen deshalb erst erkennen, wenn wir offen und neugierig auf die Andersartigkeit unserer Mitmenschen eingehen. Dazu gehört, dass wir mögliche Ängste überwinden und fremde Kulturen schätzen lernen. Wir brauchen einander, um die Herausforderungen unsere Welt zu bewältigen. Das beginnt mit der Toleranz in einem Team unterschiedlicher Persönlichkeiten. Und diese Offenheit sollte auch gegenüber anderen Kulturen und Staaten gelten.

 Helga König
Helga König: Wie können Kommunikations- und Teamfähigkeit von Menschen intensiviert werden und führt eine erhöhte Kommunikationsfähigkeit zwangsläufig zu einem besseren Miteinander? 

Michael Blochberger: Um ein besseres Miteinander zu entwickeln, müssen wir alle zunächst uns selbst und unsere Gefühlswelt verstehen lernen. Erst wenn wir die Ursachen unsere eigenen Gefühle, Ängste und Impulse erkennen und steuern können, sind wir in der Lage, auch einfühlsam mit unseren Mitmenschen umzugehen und unsere Beziehungen zu verbessern. Kommunikation und Teamfähigkeit führen erst dann zu einem besseren Miteinander, wenn ich im Umgang mit mir selbst gereift bin und ich auch empathisch auf die Belange meiner Mitmenschen einzugehen weiß. Wichtig ist die Fähigkeit zuzuhören, den anderen zu verstehen und Vertrauen zu schenken. Solange wir nur unsere Ausdrucksfähigkeit intensivieren, können wir unsere Mitmenschen zwar besser erreichen und beeinflussen. Das kann die Beziehung aber sogar verschlechtern, falls die Angesprochenen sich übergangen oder manipuliert fühlen.

Helga König: Wann kommen Menschen auf Sie zu, um sich beraten zu lassen, erst wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist? 

  Michael Blochberger
Michael Blochberger: Nein. Die Mehrzahl meiner Klienten und Seminarteilnehmer kommen, um ihre persönliche Entwicklung und ihre Karrierechancen zu optimieren. Viele haben emotionale Defizite erkannt, oder wollen ihre Empathie oder ihre Sozialkompetenz entwickeln, um sich auf zukünftige berufliche Herausforderungen vorzubereiten. Aber auch für die, die nach einer beruflichen Niederlage ihr Selbstbewusstsein zurückgewinnen wollen oder einen Neustart planen, ist es eine große Hilfe, in einem meiner Trainings aufzutanken und Orientierung zu finden. Für die persönliche Entwicklung ist es nie zu spät. 

Helga König: In den sozialen Netzwerken prallen täglich unterschiedliche Meinungen und Interessen aufeinander. Wie kann hier emotionale Intelligenz sinnstiftend zur Konfliktverminderung oder gar -vermeidung eingesetzt werden? 

Michael Blochberger:  In den sozialen Netzwerken sind häufig Anzeichen einer Enthemmung zu beobachten, die schnell aus dem Ruder laufen. Diese Medien verleiten auch dazu, sich in eine krankhafte Selbstdarstellung und Egozentrik hineinzusteigern, Gruppen und Netzwerke für die eigenen Zwecke zu missbrauchen. Ich halte es für wichtig, dass wir im Miteinander, besonders in sozialen Gruppen, auf klare Regeln, Werte und Toleranz achten, damit wir nicht in peinlicher Belanglosigkeit enden. Dazu gehört es auch, Grenzen aufzuzeigen und sich von Störenfrieden freundlich aber bestimmt zu verabschieden. So gesehen ist zum Beispiel die Moderation einer Facebook-Gruppe ein prima Übungsfeld. 

Helga König: Nicht immer scheint ein gutes Miteinander privat wie auch geschäftlich realisierbar, welche Möglichkeiten sollte man in einem solchen Fall ins Auge fassen? 

Michael Blochberger:  Das Gleiche gilt natürlich für alle Situationen des menschlichen Miteinanders. Emotionale Intelligenz heißt nicht, mit allen Lieb-Kind sein, sondern in den konstruktiven Dialog gehen, konträre Meinungen austragen und eine gemeinsame Ebene suchen. Wenn das nicht möglich ist, weil die Interessen und Werte einfach zu unterschiedlich sind, dann ist es für alle Beteiligten sinnvoller, sich in Frieden zu trennen, als sich für den anderen zu verbiegen. Das ist im Beruf nicht anders als in einer Beziehung oder einem sozialen Netzwerk. Auch eine Trennung kann schmerzfrei geschehen, wenn sie einsichtig und wertschätzend erfolgt. 

Helga König: Sehen Sie in Ihren Fortbildungskursen für Führungskräfte einen Zusammenhang zur Stärkung einer neuen Wirtschaftsethik? 

 Michael Blochberger
Michael Blochberger:  Ich sehe starke Parallelen zwischen der Ausbildung von Führungskräften und der gelebten Wirtschaftsethik in unserer Gesellschaft. Beides hängt unweigerlich zusammen, denn das Menschenbild, das ich als Führungskraft lebe und der Führungsstil, den ich verkörpere, prägen unsere Arbeitswelt maßgeblich. Solange wir in der Betriebswirtschaftslehre noch von dem künstlichen Modell des Homo Oeconomicus ausgehen und den Mensch nicht als fühlendes Wesen verstehen, wird sich unsere Wirtschaftsethik ausschließlich an Zahlen orientieren. Solange wir von "Humankapital" sprechen, wird der Mensch den Gewinnen geopfert. Ein Wirtschaftssystem, das sich ausschließlich an der Gewinnmaximierung orientiert und menschliche Qualitäten ausblendet, hat sich überlebt, denn es gefährdet unsere Demokratie. Ich sehe es als eine meiner Hauptaufgaben an, in meinen Führungstrainings eine menschlich-alternative Sichtweise zu vermitteln. Es geht mir darum zu beweisen, dass Vertrauen, Herzlichkeit und authentische Gefühlsäußerungen sinnvollere Investitionen darstellen, als das Schüren von Angst und das Ausüben von Macht. In einer neuen Wirtschaftsethik sehe ich eine der tragenden Aufgaben von Bildung und Weiterbildung unserer Gesellschaft. Diese neuen Werte müssen schon im Kindergarten, in der Schule, aber auch in der Erwachsenenbildung gelebt und vermittelt werden. Da gibt es noch viel zu tun! 

Lieber Michael Blochberger, ich danke Ihnen für das aufschlussreiche Gespräch.

Ihre Helga König

Michael Blochberger
Institut für Corporate Identity & Teamentwicklung Butlandskamp 8, 
28357 Bremen 
Fon 0421.20074.60 Fax 0421.20074.64 

Helga König im Gespräch mit Franziska Rumpf, Dipl. Kinderkrankenschwester und SAFE –Mentorin, Leiterin einer Eltern- Säuglingsberatungsstelle in Wien.

Liebe Franziska Rumpf, Sie sind Dipl. Kinderkrankenschwester und SAFE –Mentorin, leben in Wien und leiten dort eine Eltern- Säuglingsberatungsstelle. Auf Twitter sind Sie sehr engagiert im Hinblick auf die Themen Mitmenschlichkeit und Fairness. 

Sie haben auf Ihrer Profilseite einen bemerkenswerten Tweet angeheftet. Dort bekunden Sie, wofür Sie stehen. Sie schreiben: "Für mehr Respekt, Liebe, Vertrauen, Haltung, Empathie, Toleranz". 

Helga König: Woran denken Sie bei dem Begriff Haltung? 

 Franziska Rumpf
Franziska Rumpf:  Haltung bedeutet für  mich, Meinung haben dazu stehen. Auf die Wortwahl achten! Rückgrat zeigen und auch den Mut zu haben, gegen die Masse zu schwimmen. Solidaritätsfähigkeit haben und diese anderen Menschen zu entwickeln helfen, ist für mich Haltung.

Helga König: Sie wünschen sich also, dass wir alle im Hier und Jetzt ein wenig toleranter werden. Dürfen wir wissen, für welche Bereiche dies besonders gilt? 

Franziska Rumpf:  Aus meiner Sicht beginnt es im persönlichen Bereich, in meinem nächsten Umfeld. Wie gehen wir miteinander um? Wie sensibel sind wir füreinander? Dürfen wir zugeben, wie es uns tatsächlich geht? Darf ich Schwächen zeigen? Toleranz wünsche ich mir: Im Umgang mit hilfsbedürftigen Menschen, im Umgang mit anderen Meinungen, ganz besonders im Umgang von Menschen mit psychischen Erkrankungen und Menschen, welche, aus welchem Grund auch immer, "anders" sind und reagieren als für  uns "passend". Meinem Empfinden nach sind psychische Erkrankungen nach wie vor nicht akzeptiert und bedeuten oft starke Ausgrenzung und Verurteilung für die Betroffenen.

 Helga König
Helga König: Was fällt Ihnen zu dem Begriff "Miteinander" und was zu Ihrer Wortschöpfung "Twittermiteinander"spontan ein? 

Franziska Rumpf:  Miteinander bedeutet füreinander, achtsam sein. Bedeutet Sensibilität für  mein Umfeld, die Bereitschaft zu teilen, zuzuhören und hinzuschauen. Vor allem dort hinzuschauen, wo es Misstände gibt, wo es "weh tut". 

"Twittermiteinander" war eine spontane Wortkreation und bedeutet für mich einen respektvollen Umgang auch im Netz. Entgegen mancher Entwicklungen im Netz, aufgrund der niedrigen Hemmschwelle, sollten wir besonders auf die Wortwahl achten.

Twitter ist eine tolle Plattform für wunderbare Dialoge und Diskussionen, eine schöne Möglichkeit spannende Persönlichkeiten kennen zu lernen und  dient zur Erweiterung des persönlichen Horizontes. Es bedeutet aus meiner Sicht auch einander Möglichkeiten zu geben zur Vernetzung, ich durfte sehr viel lernen von anderen Personen und Expertisen einholen. Durch Empfehlungen war es mir möglich, meine Interessen und Themen zu vertiefen. Ganz besonders schön finde ich es, dass manchmal einfach nachgefragt wird, wie es mir geht. Somit ist Twitter, in gesunder Dosis, eine Form des Miteinander 💜Bei dieser Gelegenheit ein Danke an meine Follower!

Helga König: Und was  fällt Ihnen bei dem Begriff "Empathie" ein ? 

  Franziska Rumpf
Franziska Rumpf:  Empathie bedeutet für  mich auf Augenhöhe mit dem anderen sein und mich in Feinfühligkeit zu üben. Sozusagen "Bauchgefühl trifft Hausverstand". Und Bewertungen haben dabei keinen Platz.

Helga König: Wie darf man sich Ihre tägliche Arbeit als Dipl. Kinderkrankenschwester und Safe-Mentorin vorstellen? 

Franziska Rumpf:  Meine Arbeit ist eine Kombination aus Routinebetrieb und Akutbetrieb. Ich arbeite im 24 Stunden Betrieb einer Kinderambulanz, das Spektrum an Krankheitsbildern ist vielfältig und die Tätigkeiten abwechslungsreich. Prioritäten setzen, achtsames arbeiten und hohe Belastbarkeit sind Vorraussetzung für diese spannende Aufgabe. Im Routinebetrieb werden chronisch kranke Kinder und  deren Angehörige betreut. Im Akutbetrieb ist nie einschätzbar, welche Klienten zu uns kommen. Besonders fordernd sind manchmal die Nachtdienste, da in der Nacht Menschen oft intensiver reagieren, mehr Angst haben...und das Personal manchmal der Anker ist in schwierigen Situationen. Mein Tweet über den Nachtdienst beschreibt es: "In der NACHT erscheinen unsere Emotionen wie ein Vergrößerungsglas. In der NACHT empfinden wir stärker: den Schmerz,  die Unruhe,  die Einsamkeit, die Dankbarkeit,  die Aufmerksamkeit,  die Angst,  das Ausgeliefert sein in schwierigen Situationen,  die Freude über Zuwendung,  die Erleichterung über eine hilfreiche Hand."Wie empfinden Menschen in der Nacht? "..der Himmel erdrückt mich", "ich erreiche niemanden", "das Fieber steigt immer in der Nacht", "ich bin alleine und hab Panik".

Ein weiteres Arbeitsfeld ist meine Beratungsarbeit in unserer Säuglingsberatung, einer Beratungsstelle für  alle Eltern von  Babies zu allen Fragen im 1. Lebensjahr. Seit 12 Jahren unterstützen wir Eltern im Umgang mit ihrem Säugling und bieten ein breites Themenspektrum an von Ernährung über Pflege, Schlafen, Handling, Trageübungen, Babymassage... Eine Beratungseinheit dauert 1 Stunde, ist kostenlos und gerne mehrmals möglich. Dieses Angebot an alle Eltern soll eine Unterstützung sein auf dem Weg in das Leben und helfen, ein sicheres Fundament zu schaffen. Für dieses Tätigkeit ist die Ausbildung zur SAFE - Mentorin besonders bereichernd gewesen. SAFE steht für  "Sichere Ausbildung für  Eltern" und ist ein Präventionsprogramm zur Förderung einer sicheren Bindung im 1. Lebensjahr zwischen Eltern und Säugling. Entwickelt wurde es vom Münchner Bindungsforscher Prof. Dr. Brisch und wird mittlerweile weltweit vermittelt. Elemente aus diesem Programm verwende ich in der Beratungsarbeit und  fände es für  alle Sozialberufe hilfreich, diese Ausbildung zu absolvieren. In der Krankenpflegeausbildung wäre das Mentorentraining ein hilfreiches Instrument. Der Kernpunkt ist das "Konzept der Feinfühligkeit ", entlang den Reaktionen und Bedürfnissen des Säuglings angemessen zu reagieren. Info: safe-programm.de 

 Helga König
Helga König: Erleben Sie Mütter, denen es an Empathie mangelt und wie äußert sich ein solcher Mangel bei den Säuglingen? 

Franziska Rumpf: Einen Empathiemangel unterstelle ich keiner Mutter. Wesentlich ist den Eltern zuzuhören und ihre Wahrnehmungen und Empfindungen nicht zu bewerten. Wir erleben Mütter/Väter, welche enorm unter Druck stehen, Ängste haben, unter Schlafmangel leiden und somit an die Grenze ihrer Belastbarkeit kommen. Sie benötigen Verständnis, Anleitung und möchten wahr genommen werden. Sie brauchen keine Belehrungen, sie brauchen Raum für ihre Emotionen und das Gefühl, alles besprechen und fragen zu dürfen. Wir unterstützen diese Eltern dabei, feinfühlig auf ihr Kind zu reagieren. Oft genügen ein bis zwei Beratungsstunden, um eine stabile Basis für Eltern und Säugling herzustellen. Motivation und Stütze sein kann so viel bewirken! Säuglinge, welche keine Feinfühligkeit erleben (von Eltern, welche es häufig auch nicht erlebten) können Verhaltensauffälligkeiten entwickeln, fühlen sich allein und ihren Emotionen überlassen, neigen vermehrt zu Schreianfällen...und könnten im späteren Leben weniger empathiefähig sein. 

Helga König: Sie arbeiten an der Wiener Rudolfsstiftung und haben in einem Interview mit kuriert.at gesagt, dass Eltern mit ihrem Nachwuchs zunehmend überfordert sind. Woran liegt das Ihrer Meinung nach und wie äußert sich dies? 

  Franziska Rumpf
Franziska Rumpf:  Wir leben in einer Zeit, die uns alle fordert in unserem Alltag. Elternschaft, Eltern werden, bedeutet ein einschneidendes Erlebnis und eine Lebensveränderung, welche viele Menschen "durcheinander" rüttelt und das Leben auf den Kopf stellt. Vieles wird vor der Geburt anders erhofft und erwartet. Viele Eltern, die zu uns kommen, haben Sorge, zu versagen und mit ihren Ängsten allein zu sein. Heute fehlt oft der stützende Familienverband, ein helfendes Netz muss erst aufgebaut werden.und häufig fühlen sich Mütter/Väter isoliert. Ebenso verunsichernd wirkt das Überangebot an Informationen und der häufige Konsum von Google und Co. Umso wichtiger sind niederschwellige Angebote für persönliche Beratungsgespräche und die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für dieses Thema."Frühe Hilfen" sind besonders wichtig und sollen ein Beitrag zur Gewaltprävention sein. Ich wünsche mir, dass viele Eltern Beratungsangebote in Anspruch nehmen, ohne sich dafür zu schämen oder sich schlecht zu fühlen.

 Helga König
Helga König: Was bewirken die Tweets Ihrer Twitterfreunde (m/w) nach anstrengenden Arbeitstagen bei Ihnen? 

Franziska Rumpf: Sie überraschen mich! Oft fremde Menschen bedanken sich für meine Arbeit und reagieren einfühlsam. Das zeigt Empathie und Wertschätzung und freut mich sehr. Toll waren und sind die vielen Likes und RTs meines angehefteten Tweets oder der einzelnen Hilfsaktionen, welche ich gestartet habe. 

Helga König: In einem Ihrer Silvestertweets schreiben Sie, dass Sie sich mehr Twitterprojekte und Twitterinitiativen wünschen. Können Sie das bitte näher erklären? 

  Franziska Rumpf 
Franziska Rumpf: Es gab und gibt immer wieder Hilfsaktionen und Initiativen von  TwitterantInnen in meiner Timeline. Das zeigt von Menschlichkeit und Solidarität. Diese Initiativen finde ich grossartig u sehr unterstützenswert. Beispielsweise die Sammlung von Monatskarten für öffentliche Verkehrsmittel in Wien für sozial benachteiligte Menschen von @peterbern und Daniel Landau. Oder Sammelaktionen, um Kindern Bücher oder Schulwaren zu schenken... Gemeinsam können wir viel erreichen! 

Helga König: Wie könnte sich Mitmenschlichkeit und Fairness dem Pflegepersonal in Krankenhäusern gegenüber erkennbar äußern. Was empfehlen Sie diesbezüglich allen, die Sie hier lesen?

Franziska Rumpf: Ein freundlicher, höflicher Umgang erleichtert unsere Arbeit ungemein! Ein "Danke" freut uns. Beschimpfungen und Entgleisungen, welche leider zunehmen, finde ich kräfteraubend und sind ein Zeitverlust. Ich denke, die Leser brauchen keine Empfehlungen diesbezüglich.

Liebe Franziska Rumpf, ich danke Ihnen vielmals für das aufschlussreiche Gespräch.

Ihre Helga König 

Helga König im Gespräch mit Jürgen Schöntauf, dem Autor des Buches "Sinnstifter", Mitglied der "Wertekommission e.V."


Lieber Jürgen Schöntauf, zu Anfang des Jahres 2017 haben wir beide uns auf "Buch, Kultur und Lifestyle" über Ihr Buch "Sinnstifter" unterhalten. Nicht nur dieses Buch outet Sie als Menschenfreund im Netz, sondern auch Ihre Mitgliedschaft in der "Wertekommission"

Helga König: Sie sind aufgrund eines Schicksalsschlags 2004 gemeinsam mit Ihrer Frau den Jakobsweg gegangen. Welche Botschaft für Ihre Mitmenschen haben Sie von dort mit zurückgebracht?

  Jürgen Schöntauf
Foto: Klaudius Dziuk
Jürgen Schöntauf: Dass es immer weiter geht, egal was uns passiert. Das steckt schon im alten Gruß, den man immer wieder auf dem Jakobsweg in Spanien hört: "Ultreia". Im spirituellen Sinne bedeutet es »Geh weiter, geh über Dich hinaus, geh an Deine Grenzen« oder auch ganz einfach »Voran«. Nach dem Tod unserer Tochter im Mai 2004 waren meine Frau und ich am Boden zerstört. Wir drohten tief in Depressionen zu fallen und wussten nicht, wie wir weiterleben sollten. Wir waren beide selbständig und hatten zu der Zeit auch noch geschäftliche Probleme und Schulden. Unser Leben schien uns komplett zu entgleiten. 

Die Idee mit dem Jakobsweg kam nicht aus heiterem Himmel. Ich hatte bereits vorher Bücher darüber gelesen und es als sehr spannend empfunden, obwohl ich nicht besonders religiös bin. Meine Frau war immer schon die Spirituellere von uns, aber vor allem war uns beiden klar, und uns beiden war klar, dass wir in Bewegung kommen müssen, wenn wir weiterleben wollen. Der Jakobsweg in Spanien ist ideal dazu. Wir benötigten nicht besonders viel Planung. Es war eher die Frage, für wie lange reicht das Geld. Der Bruder meiner Frau fand die Idee zum Glück ebenfalls hervorragend und hat uns finanziell unterstützt. Einmal angekommen, war das Laufen dann ganz einfach. Wir mussten uns wenig Gedanken machen, sind losgelaufen und alles andere hat sich ergeben. Auf dem Jakobsweg muss man nichts planen. 

Die Wege sind durch die Jakobsmuscheln perfekt gekennzeichnet, und es gibt alle paar Kilometer Herbergen, in denen man umsonst oder für wenig Geld übernachten kann. Dazu begegnet man ständig neuen Menschen oder auch immer wieder denselben. Wir hatten am Anfang wenig Lust, etwas über uns zu erzählen, und so haben wir viele Geschichten von anderen gehört. Mit der Zeit haben auch wir uns geöffnet und Zuhörer für unsere Geschichte gefunden. Wir haben auf dem Weg getrauert, geweint und gelacht. Es war unglaublich befreiend. Nach unserer Rückkehr überfielen uns die Trauer und die Erinnerungen natürlich wieder mit voller Wucht. 

Wir sind aber in Bewegung geblieben, haben unser Geschäft auf neue Füße gestellt, und so konnten wir nach und nach unser Leben wieder in den Griff bekommen. Trauer lässt uns erstarren, egal in welcher Form sie uns trifft. Schaffen wir es aber, in Bewegung zu bleiben oder zu kommen, so öffnen sich wieder neue Wege. Das ist mein Rat: Nicht die Trauer verdrängen, denn sie ist wichtig und braucht ihre Zeit. Aber man muss in Bewegung bleiben. Ultreia – Geh weiter. 

 Helga König
Helga König: Was kann Ihrer Erfahrung nach unternommen werden, damit der Respekt und die Wertschätzung der Menschen untereinander sich wieder erhöhen? 

Jürgen Schöntauf: Das ist im Grunde ganz einfach: Indem wir selbst jederzeit respektvoll und wertschätzend sind. Denn wir Menschen spiegeln einander, und das zu jeder Zeit. Wir wissen das aus der Forschung, und wer Kinder hat, erlebt es jeden Tag. Jeder von uns kann hier und heute damit anfangen, andere Menschen respektvoll und wertschätzend zu behandeln und wird Respekt und Wertschätzung zurückbekommen. Aber leider lieben viele Menschen respektloses Verhalten, allein schon, weil es unterhaltsam ist. Dafür müssen wir nur regelmäßig in die Medien schauen. Glauben Sie, dass Dieter Bohlen seine ganzen respektlosen Sprüche spontan einfallen? Nein, er hat Redenschreiber, die ihm ganze Kataloge schreiben, und sucht nur noch die passende Gelegenheit, sie zu platzieren. 

Viele Millionen Menschen schauen DSDS und finden es toll, wenn dort wieder jemand runtergemacht wird. Unsere Presse weiß, dass sie mit Respektlosigkeit die Auflagen oder die Klicks im Internet erhöhen. Denken Sie nur daran, wie mit dem ehemaligen Bundespräsidenten Wulff umgegangen wurde. Im Nachhinein betrachtet hatte er sich nichts zuschulden kommen lassen, jedenfalls nichts, was einen Rücktritt gerechtfertigt hätte. Aber zum Skandal aufgebauscht hat das Thema über Wochen für Gesprächsstoff gesorgt, bei dem jeder glaubte, mitreden zu können. 

Ein großes Problem ist auch die Anonymität im Internet, sie pusht Respektlosigkeit erst so richtig. Durch das Internet ist die Kommunikation so schnell geworden, dass die meisten Menschen anscheinend nicht mehr mitkommen. Es ist so leicht, seiner Wut anonym unmittelbaren Ausdruck zu verleihen. Das Thema ist so groß, dass ich es erst einmal bei meinem Rat belasse: Wer Respekt und Wertschätzung erhalten möchte, sollte den Menschen respektvoll und wertschätzend entgegentreten. 

Helga König: Woran denken Sie spontan, wenn Sie den Begriff "Wirtschaftsethik" lesen? 

  Jürgen Schöntauf
Foto: Klaudius Dziuk
Jürgen Schöntauf: Dass es schön wäre, wenn der Theorie Handlungen in der Praxis folgen würden. Zentrale Werte in der Wirtschaftsethik sind Humanität, Solidarität und Verantwortung. Genau wie Respekt und Wertschätzung müssten sie nur angewendet werden. Die Unternehmen würden unglaublich viel zurückbekommen. Zum Glück gibt es allerdings gerade im deutschen Mittelstand bereits Unternehmen, die sich diesen Werten verpflichtet fühlen. 

Einige habe ich in meinem Buch »Sinnstifter« beschrieben, aber darüber hinaus sind es mittlerweile besonders Startups, die sich dem Social Entrepreneurship verschrieben haben. Das erfüllt mich mit großer Hoffnung für die Zukunft. So gibt es beispielsweise an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Mannheim ein Projekt für Gründergeist in Studium und Wirtschaft, DHPRENEUR. Dort ist ein großes Ziel, Social Entrepreneurship in so viele Unternehmen wie möglich zu tragen und die Basis dafür sind die Studenten. Ein tolles Projekt mit Zukunftspotential. 

  Helga König
Helga König: Was sind für Sie zentrale Werte, die es überall zu kultivieren gilt? 

Jürgen Schöntauf: Respekt, Verantwortung, Vertrauen, Integrität, Mut, Transparenz und Offenheit. Das sind für mich die Grundlagen einer lebendigen Gesellschaft, in der der Mensch im Mittelpunkt steht.

Helga König: Was können Eltern und was kann die Schule leisten im Hinblick auf Wertevermittlung? 

Jürgen Schöntauf: Eltern sind immer die Basis für die Wertevermittlung. Wie ich schon gerade sagte, spiegeln wir Menschen uns immer und jederzeit. Wertevermittlung oder Wertebildung beginnt im Alltag. Eltern prägen ihre Kinder und schon bald gehören auch die ErzieherInnen im Kindergarten dazu und danach natürlich die Lehrer. Deren Wertehaltung hat ebenfalls einen enormen Einfluss und ist genauso prägend wie die des Elternhauses. Ich sehe bei meinen eigenen Kindern, dass bestimmte Menschen im Kindergarten oder in der Schule besonders wichtig für sie sind. Sie orientieren sich an ihnen und übernehmen sogar manchmal deren Denk- und Sichtweise. Sie prägen unsere Kinder, ob wir das nun wollen oder nicht. Ich weiß manchmal allerdings nicht, ob das den Erziehern bzw. Lehrern so bewusst ist. 

Übrigens hat ja bereits Aristoteles erkannt, dass Werte nur dann entstehen können, wenn Kinder in einem Umfeld leben, in dem auch Werte gepflegt und geschätzt werden. Ich habe hier noch ein kleines Beispiel für einen Wertekonflikt, in den Kinder in der Schule schnell geraten können: Wir als Eltern – und natürlich die Lehrer auch – wollen, dass die Kinder Ordnung und Sauberkeit lernen. In vielen Schulen sind aber besonders die Toiletten verdreckt und in schlechtem Zustand, aber auch viele andere Räume geben nicht das Gefühl von Ordnung und Sauberkeit wieder. Es ist aber fast unmöglich, Kindern Werte zu vermitteln, die sie in ihrer Umgebung nicht wiederfinden. Es sind oft die Kleinigkeiten, an denen dann das Große scheitert. 

Helga König: Welche Möglichkeiten haben wir im Internet, etwas für Wertevermittlung zu tun? 

  Jürgen Schöntauf
Foto: Klaudius Dziuk
Jürgen Schöntauf: Das größte Problem im Internet ist zum einen die Schnelligkeit der Kommunikation und zum zweiten, wie bereits erwähnt, die Anonymität. Die Schnelligkeit und die Möglichkeit, unmittelbar, spontan und ohne weitere Reflektion zu antworten, fördern die Respektlosigkeit und den Verlust der Wertschätzung. 

Wenn wir uns in der Zeit der Online-Kommunikation über etwas aufgeregt haben, konnten wir beispielsweise einen Leserbrief verfassen. Wir haben das Ganze, sicher auch aufgeregt oder wütend, erst einmal zu Papier gebracht, mussten ein Kuvert suchen, hatten womöglich keine Briefmarke zur Hand etc. und das Ganze bliebt erst mal liegen. Stunden später, als die erste Wut verraucht war, haben wir den Brief entweder gar nicht versendet oder noch mal neu geschrieben. Respektvoller im Ton, mit Argumenten versehen und so weiter. Die Frage ist, wie wir das im Internet hinbekommen? Auf jeden Fall sollten wir dringend wieder lernen, erst einmal zu denken, bevor wir handeln. Nicht sofort aufregen, sondern erst einmal Fakten prüfen, Kaffee trinken, um den Block laufen und dann reagieren. Ich denke auch, dass es Zeit wird, die Anonymität im Internet aufzuheben. 

Grundsätzlich ist es ok, wenn jeder seine Meinung hat und diese auch kundtut. Aber dann soll er auch dazu stehen. Eine andere Meinung kann uns aufregen, aber wir müssen sie respektieren. Und wenn wir nicht genügend Argumente für unsere eigene Meinung haben, müssen wir auch damit leben. Notfalls kann man ja immer noch den Standpunkt haben: Ich wäre ja gerne deiner Meinung, aber dann hätten wir beide Unrecht!

  Helga König
Helga König: Sie sind u. a. Unternehmensberater, auch im Hinblick auf Wertekompetenz. Wie stoßen Sie in Unternehmen Werteprozesse an? 

Jürgen Schöntauf: Das ist sehr unterschiedlich und hängt ganz davon ab, wie das Unternehmen aufgestellt ist. Aber zwei Dinge sind überall gleich: 1. Die Unternehmensleitung muss davon überzeugt sein, und 2. Die Mitarbeiter müssen unbedingt dabei sein. Wir würden keinen Werteprozess nur mit der Geschäftsführung und dem Führungsteam starten, dann lassen wir es lieber ganz sein. Denn daraus entsteht in der Regel nur viel heiße Luft, die nach ein paar Wochen verpufft ist. Generell ist ein Werteprozess nur ein Auftakt für weitere Prozesse, die von uns angeregt werden können, deren Weiterführung aber wiederum von der Führungsmannschaft abhängt. Dazu müssen die Verantwortlichen wirklich dahinterstehen. Sonst ist die Enttäuschung der Mitarbeiter nur noch größer und nur schwer wiedergutzumachen. 

Helga König: Gibt es durch die Digitalisierung einen Wertewandel, dem wir etwas entgegensetzen sollten? 

  Jürgen Schöntauf
Foto: Klaudius Dziuk
Jürgen Schöntauf: Wir Menschen sind ja nicht von Grund auf bösartig, sondern eher auf ein Miteinander und auf Konsens getrimmt. Wir wollen, dass andere uns mögen und respektieren. Das wird sich auch durch die Digitalisierung nicht ändern. Aber sie macht die Sache tatsächlich schwieriger und befördert auch eine gewisse Art von Hochmut und die Herabsetzung anderer Meinungen. Jeder einzelne von uns kann dem Stil, der sich gerade auszubreiten scheint, Respekt, Achtung, Wertschätzung und auch etwas Demut entgegensetzen. Das ist zugegeben wahnsinnig schwer und erfordert viel Mut. Aber ich denke, es lohnt sich, und ich bin auch davon überzeugt, dass sich langfristig die Art der Kommunikation im Internet auch wieder verändern wird. Ich setze hier auch auf die jungen Generationen, die mit den sozialen Medien und dem Internet aufwachsen und es wie selbstverständlich nutzen. 

Wenn wir hier Acht geben bei der Vermittlung von Werten und den Umgang miteinander, dann sollte es uns gelingen, die Zukunft positiv zu gestalten. Der zweite große Punkt bei der Digitalisierung ist, wie sich unsere Art zu arbeiten verändern wird und dass in Zukunft viele Berufe schlicht und ergreifend wegfallen werden. Bisher hat sich gezeigt, dass viele neue Berufe durch die Digitalisierung entstehen, in denen wiederum jede Menge Arbeitskräfte benötigt werden. Die große Frage wird aber sein, wie wir den Menschen begegnen, die dreißig Jahre eine Aufgabe hatten und sie nun durch die Automatisierung verlieren. Das ist eine der Stellen, an denen sich zeigen wird, wie sich unsere Wirtschaftsethik in der Praxis umsetzen lässt. Womöglich ist an dieser Stelle das bedingungslose Grundeinkommen eine Lösung. 

In Versuchen in anderen Ländern hat sich bereits gezeigt, dass das dazu führt, das sich Menschen weiterbilden und Neues lernen, weil sie finanziell abgesichert sind. Wir sind nicht dafür geschaffen, denn ganzen Tag ohne soziale Kontakte zu Hause zu bleiben. Die wenigsten Menschen wollen das. Es gibt sicherlich Ausnahmen, die immer die Systeme ausnutzen, das können wir nicht verhindern, und dazu bietet auch unser jetziges Sozialsystem Möglichkeiten. Schlecht ist, wenn diese Ausnahmen in den Fokus der Öffentlichkeit geraten, die Diskussion bestimmen und letztlich verhindern, dass moderne und gute Lösungen gefunden werden. 

  Helga König
Helga König: Wie stellen Sie sich in Unternehmen ein sinnstiftendes Miteinander vor?

Jürgen Schöntauf: Das ist schon spannend, das zieht sich durchs gesamte Interview. Denn auch Sinnstiftung beginnt mit Respekt und Wertschätzung. Beide sind die Basis für alles Weitere. Ohne Respekt und Wertschätzung gibt es keine positive Unternehmenskultur und ohne diese werden die Prozesse in den Unternehmen nicht auf die Menschen und die Umwelt ausgerichtet sein. Als Beispiel kann hier das IT-Unternehmen auticon aus Berlin dienen. Auticons Unternehmensziel war von Anfang an, möglichst vielen Asperger-Autisten ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. 

Das Ziel war nie in fünf Jahren soundsoviel Millionen Umsatz zu machen und X Standorte in Deutschland zu haben. Gut zweidrittel der Mitarbeiter bei auticon sind Asperger-Autisten, und wer weiß, wie diese ticken, weiß auch, dass der Umgang nicht immer ganz einfach ist. Doch das Unternehmen hatte bereits sehr schnell nach Gründung große Erfolge und hat mittlerweile 6 Niederlassungen in Deutschland und je eine in London und Paris. Und auch dort werden hauptsächlich Autisten als IT-Experten eingesetzt. Das Unternehmen zeichnet sich durch eine große Wertschätzung seinen Mitarbeitern gegenüber aus und hat vielen Autisten zu einem selbstbestimmten Leben verholfen. Doch auch viele Unternehmen, in denen die Berater von auticon tätig waren, sind begeistert. Denn auch sie haben davon profitiert, mit außergewöhnlichen Menschen, die ansonsten in Heime oder sozialen Einrichtungen abgeschoben werden, zu arbeiten.

Bei vielen Unternehmen hat sich die Art und Weise der Kommunikation deutlich verbessert. Denn mit einem Asperger-Autisten müssen sie ganz klar und eindeutig kommunizieren, ohne die vielen sozialen Schleifen und sprachlichen Mehrdeutigkeiten, die wir so gerne verwenden. Ich würde Ihnen gerne noch viel mehr Beispiele nennen, aber dann hätten wir ganz schnell wieder ein Buch zusammen.  

Helga König: Wodurch zeichnet sich nach Ihrer Meinung ein Menschenfreund aus? 

  Jürgen Schöntauf
Foto: Klaudius Dziuk
Jürgen Schöntauf: Sie werden ihn immer an seinem respektvollen und wertschätzenden Verhalten erkennen. Respekt kommt vom lateinischen respectus, und das bedeutet Zurückschauen, Rücksicht, was wiederum bedeutet, der respektvolle Mensch sieht den anderen Menschen. Er zeigt Interesse an dessen Person und wird sie so nehmen und achten, wie sie ist. Leider gibt es derzeit nicht so viele davon wie es sein sollten. Aber auch hier kann jeder bei sich selbst anfangen. Ich habe vor kurzem in einer Studie gelesen, wie positiv sich Dankbarkeit auswirkt. Dort wurde festgestellt, dass Menschen, die sich regelmäßig bedanken, entsprechende Dankbarkeit zurückbekommen.

Das sind wir wieder bei der Wertevermittlung und unseren Kindern. Wie oft wird von kleinen Kindern verlangt, dass sie sich jetzt aber bitteschön bedanken sollen. Aber dadurch lernen es die Kinder nicht. Sie lernen es, wenn sie erleben, dass ihre Eltern Danke sagen. Vor allem, wenn sie sich bei den Kindern bedanken. Das fällt leider vielen schwer oder sie sehen die Notwendigkeit nicht. Wie oft ermahnen wir Kinder, nicht einfach dazwischen zu reden, wenn Erwachsene sich unterhalten. Wir unterbrechen Kinder aber immer und jederzeit, wenn es uns passt. Schließlich sind wir ja diejenigen, die groß sind und etwas zu sagen haben. Aber wie sollen Kinder dann respektvolles Verhalten lernen? Und jetzt übertragen Sie das mal auf Politik und Wirtschaft. 

Wenn wir respektloses Verhalten bei Politikern und Manager erleben, fällt es vielen leichter, sich entsprechend zu benehmen. Die da oben machen das ja schließlich auch. Besonders gut ist das ja gerade in den USA zu beobachten, die einen Präsidenten haben, der sich hauptsächlich durch respektloses und wenig wertschätzendes Verhalten auszeichnet. Das wirkt sich irgendwann auf die gesamte Gesellschaft aus. Und an der Stelle muss sich jeder selbst fragen, wie weit er das mitmachen will. Wir haben immer die Wahl, wie wir uns verhalten und anderen Menschen begegnen.

Lieber Jürgen Schöntauf, besten dank für das aufschlussreiche Gespräch.

Ihre Helga König

Helga König im Gespräch mit dem Theologen Horst Peter Pohl

Lieber Horst Peter Pohl, Sie sind evangelischer Theologe und waren Stadtdekan in Frankfurt. Tätig waren Sie in den zurückliegenden Jahren als Pfarrer, Pädagoge, Referent und früher Leiter eines Kriseninterventionsdienstes für Suizidgefährdete. In den sozialen Netzwerken sind Sie sowohl auf Twitter als auch auf Facebook, Instagram und Pinterest aktiv und betreiben die Website "Nichtallzufromm".

Helga König: Wie reagieren Ihre Follower im Allgemeinen, wenn Sie diese persönlich so nett schon am frühen Morgen begrüßen?

 Horst Peter Pohl
Horst Peter Pohl: Ich tue das jetzt seit über 8 Jahren. Fast alle freuen sich und erwidern diese Grüße, manche haben sich später noch einmal ausführlich bedankt. Sehr selten ist mir begegnet, dass jemand das nicht mochte, dann vor allem, weil ich an diesem Tag zu viele Menschen begrüßt habe.

Helga König: Man erlebt im Netz manchmal sehr einsame Menschen und mitunter sogar welche, die kurz davor stehen, Suizid zu begehen. Können Sie an Posts erkennen, ob ein Mensch dringend seelischen Beistand benötigt?

Horst Peter Pohl: Ich bilde mir nicht ein, das immer erkennen zu können, aber es kommt vor. Häufiger kommt aber vor, dass ich direkt angesprochen werde. Vor allem bin ich für viele der "Pfarrer, den ich kenne".

 Helga König
Helga König: Was fällt Ihnen spontan bei dem Begriff "Mitmenschlichkeit" im Netz ein?

Horst Peter Pohl: Ich erlebe im Netz – vor allem auf Twitter – sehr viel Mitmenschlichkeit. Man grüßt sich, fragt nach, nimmt Anteil, hilft weiter und hält zum Teil sehr guten Kontakt über viele Jahre.

Helga König: .. und was bei "Fairness"?

Horst Peter Pohl 
Horst Peter Pohl: Unter Fairness verstehe ich die Einhaltung der "Goldenen Regel" "Was du nicht willst, das man Dir tu…". Die steht ja auch in der Bergpredigt "wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch!". Es gibt natürlich auch die Kehrseite des Netzes. Manchmal bin ich fassungslos, wie herabwürdigend, manchmal hasserfüllt über andere gesprochen wird. Und das durchaus nicht nur von der Politisch Rechten (allerdings von dort häufiger).

Helga König:  Sind die sozialen Netzwerke ein interessantes neues Betätigungsfeld für Geistliche und falls ja, wie könnte Seelsorge hier stattfinden?

Horst Peter Pohl: Das wird ja von Anfang an so genutzt, so neu ist es also gar nicht. Evangelische Geistliche werden in ihrer Ordination verpflichtet, das Evangelium "öffentlich" zu verkündigen. Das heißt nach meiner Meinung: selbstverständlich auch im Netz. Es gibt spezielle Seelsorgeplattformen im Internet, aber die große Chance der Sozialen Netzwerke ist, dass sich dort Menschen begegnen. Wie früher und mancherorts heute noch auf dem Dorfplatz kann man auch einem Menschen begegnen, der Pfarrerin oder Pfarrer ist. Man kann ihn ansprechen. Man kann es aber auch dabei belassen, zu grüßen. Und als Pfarrer kann ich wie auf dem Dorfplatz fragen "Sie sehen heute irgendwie traurig aus…"

  Helga König
Helga König:… und wie könnte man ethisches Gedankengut gut nachvollziehbar für jedermann vermitteln?

Horst Peter Pohl: Indem man es so oft wie möglich in Diskussionen einbringt. Indem man zu strittigen Fragen Stellung nimmt. Indem man möglichst kurz und knackig, aber trotzdem differenziert schreibt.

Helga König: Wäre es nicht sinnstiftend, wenn ausgebildete Seelsorger mit Fremdenhassern im Netz in den Dialog treten, haben Sie diesbezüglich schon Erfahrungen sammeln können?

 Horst Peter Pohl
Horst Peter Pohl: Da steckt für mich ein großes Problem. Kirche und Pfarrer sind bei den meisten "Fremdenhassern" ebenfalls hassbesetzt und können nur schwer Zugang finden. Für mich selbst kommt hinzu, dass ich eben vor allem als Mensch unterwegs bin. Ich möchte in meiner "Timeline" keinen blanken Hass lesen. Es ist deshalb vorgekommen, dass ich Menschen "entfolgt" habe, deren Ergüsse ich nicht mehr lesen wollte. Allerdings sehr selten.

Helga König: Wie kann man im Netz Böses mit Gutem überwinden?

Horst Peter Pohl: Durch Freundlichkeit, Beharrlichkeit und Genauigkeit am ehesten. Aber vor allem indem man aufpasst, sich nicht selbst vom Bösen überwinden zu lassen.

  Helga König
Helga König: Auf Ihrer Website liest man eingangs "Sei nicht allzufromm und gebärde Dich nicht allzu weise, warum willst Du Dich zugrunde richten? (Pred. 7,16)". Wann ist ein Mensch "fromm" und wann "allzufromm"?

Horst Peter Pohl:  Wie gesagt, es ist ein biblisches Zitat, das ich natürlich auf mich beziehe. Ich bin fromm, aber nicht allzu fromm. Fromm sind Menschen, für die Gott in ihrem Leben eine Rolle spielt und den sie um Rat fragen. Allzu fromm sind für mich Menschen, die man früher als "frömmelnd" bezeichnet hat. Man meinte damit die, die eine Frömmigkeit vor sich her trugen. Vielleicht kann man unter "Allzu Fromm" auch Menschen verstehen, die glauben, man müsse die Bibel in allen Teilen wörtlich nehmen. Aber für mich ist das eigentlich gar nicht fromm, sondern eher dumm. "Nichtallzufromm" heißt für meinen Blog, dass ich über "Gott und die Welt" rede, über Religiöses und Politisches wie über Alltägliches und Witziges. Und mich dabei traue, durchaus auch mal "ketzerische" Ansichten zu äußern.

Helga König: Wie äußert sich nach Ihrer Vorstellung ein geglücktes Miteinander im Netz und was kann jeder dazu beitragen?

 Horst Peter Pohl
Horst Peter Pohl: Der alltägliche Anstand ist der Mörtel, der das Netz wie die Welt überhaupt zusammenhält. Der alltägliche Anstand zeigt sich in einer gewissen Freundlichkeit und Höflichkeit. Wenn dann noch hinzukommt, dass Menschen sich miteinander freuen, anderen raten, helfen und sie trösten, dann ist doch viel erreicht. Und fleißig "faven" und "retweeten", "liken" und "teilen" – auch das ist eine Form der Mitmenschlichkeit im Netz.

Lieber Horst Peter Pohl, ich danke Ihnen für das  aufschlussreiche Gespräch

Ihre Helga König

https://nichtallzufromm.de/

Helga König im Gespräch mit Dr. Gertrud Müller, Soziologin, Verhaltenswissenschaftlerin, Psychoonkologin

Liebe Gertrud Müller, Sie sind Soziologin, Verhaltenswissenschaftlerin, Psychoonkologin, und wurden in Philosophie an der LMU München zum ...