Liebe Gertrud Müller, Sie sind Soziologin, Verhaltenswissenschaftlerin, Psychoonkologin, und wurden in Philosophie an der LMU München zum Thema "Was ist S(s)chuld?" promoviert. Auf Twitter betreiben Sie einen Account und empfehlen diesen dort mit den Worten: "Eine neue Welt: wir helfen uns, teilen miteinander und lernen voneinander, wir achten dankbar die Natur."
Es freut mich, Sie für ein Interview auf "Buch, Kultur und Lifestyle" habe gewinnen können und dass Sie hier an dem Ethik-Langzeitprojekt "Interviews- Begegnungen mit Menschenfreunden im Netz" teilnehmen.
Helga König: Was bedeutet Ihnen Fairness ?
Dr. Gertrud Müller Foto: Kai Schlander |
Dr. Gertrud Müller: Fairness bedeutet für mich eine Balance von Geben und Nehmen, im Austausch: jeder gibt was er/sie gern geben kann und erhält vom anderen das, was der/die andere gern geben mag, freiwillig und unkompliziert.
Ich habe dazu Fairhandelsscheine entwickelt: https://survivalscales.de/sozialeintelligenz/
Helga König: Wie sollte nach ihrer Meinung das Helfen in Kriegsgebieten wie derzeit in der Ukraine
ausschauen?
Dr. Gertrud Müller: In meiner Vorlesung Schulpsychologie hatte ich dieses Semester zwei
Friedenspädagoginnen als Gastdozentinnen eingeladen, die erfolgreiche
Friedensprojekte mit geflüchteten ukrainischen Frauen und Kindern durchführen. Vor
allem wird hier psychische Gesundheit geübt und gelernt um die negativen
Lebenseinstellungen zu überwinden, die durch den Krieg entstanden sind.
Was ich persönlich aus Gesprächen mit Ukrainerinnen und Russinnen gehört habe,
leiden beide Bevölkerungsgruppen unter dem Krieg. Die russischen und ukrainischen
Menschen waren oft vor dem Krieg befreundet, sind teilweise verwandt miteinander. Es
ist sicher wichtig die wechselseitige Verhärtung durch die Kriegs-Feindseligkeit wieder
aufzuweichen und zu erkennen, die Gegner sind auch Menschen, die ohne Krieg und in
Ruhe und Frieden leben möchten.
Meines Erachtens ist das erste und wichtigste Ziel Ruhe in die aufgeheizte Atmosphäre
zu bringen: Anzustreben ist ein gegenseitiger Waffenstillstand, dass nicht noch mehr
Leid geschieht. Nach einem Waffenstillstand können Verhandlungen aufgebaut werden.
Aus der christlichen Geschichte, auf die sich beide Völker berufen, lernen wir, dass
Auge um Auge/Zahn um Zahn nicht die Lösung sein kann. Die gemeinsamen
christlichen Werte beider Kulturen könnten sinnstiftend zum Frieden beitragen
Und es ist wichtig, dass Frauen mehr Einfluss gewinnen. Frauen können auf Männer
mäßigenden Einfluss gewinnen. Männer sind leider durch die Evolution und die
Jahrtausende der Kriegsgeschichte sehr an Gewalt gewöhnt und finden Gewalt teilweise
als normal und vor allem als männlich. Das ist ein großes Problem im Krieg, weil damit
die brutalsten Männer als die männlichsten und tapfersten gelten und die friedlicheren
Männer kaum mehr mäßigend einwirken können.
Zudem ist ein großes Problem, dass die Bevölkerung Krieg als Schicksal ansieht, auf
das es keinen Einfluss hat. Es ist wichtig die wechselseitige Kriegspropaganda zu
durchschauen und die wechselseitige Feindseligkeit so weit als möglich zu minimieren.
Von dem buddhistischen Mönch Thich Nhat Hanh wird berichtet, dass er an der
Kriegsfront spazieren ging. Die Leute sagten: "Der Mann ist verrückt, er geht an der
Front spazieren."
Thich Nhat Hanh erwiderte gelassen: "Ich weiß nicht wer verrückter
ist: Die Leute, die sich gegenseitig erschießen, oder ich, der spazieren geht."
Jürgen Drewermann meinte es sei eine Möglichkeit auch gegnerische Soldaten
menschlich zu behandeln, ihnen Essen und Trinken zu geben, auch das kann dazu
beitragen, dass sich die Feindseligkeit reduziert.
Es gibt im Krieg sicher kein Patentrezept. Viele melden sich auch an Einsatzorte, an
denen sie niemanden erschießen müssen (Sanitätsdienst, Küche, Reparatur)
Soldaten haben auch selbst die Möglichkeit den Krieg zu sabotieren. Mir erzählten viele
ehemalige Kriegsteilnehmer, dass sie bewusst danebengeschossen hätten, da sie es nicht
mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten, andere zu töten.
Helga König |
Dr. Gertrud Müller: Machthierarchien und Kriege sind zu einer Kultur geworden. Kulturen werden von
Menschen anerkannt, so auch die Kampf- und Kriegslogik.
Kulturregeln sind wie Spielregeln, es gilt als Ehrensache sich daran zu halten, sonst wird
man als Spielverderber ausgegrenzt, darf nicht mehr mitspielen. Diese Mechanismen
werden schon als Kind erlernt und sind den Menschen deshalb relativ unbewusst.
Es gibt ein so genanntes Kriegsrecht, das heißt, wenn jemand beim angeordneten Krieg
nicht mitspielt, kann er sehr hart bestraft werden. Wer will das schon riskieren?
Der Druck ist in der aktuellen Situation ist oft entscheidend fürs eigene Überleben. Der
Schaden, so sagen Kriegsteilnehmer wird erst begutachtet, wenn der "Fog of war" vergangen ist, d.h. wenn sich der Nebel des Krieges gelichtet hat.
Menschen halten sich an die Macht- und Kriegsspielregeln, so wie sie sich an die Regeln
halten bei Mühle, Dame, Schach und Monopoly.
Helga König: Ebenfalls am 3.1.23 haben Sie geschrieben: "Nicht nur 2022, seit ich lebe, enttäuschen
mich kranke Gesellschaften, das Unvermögen Verantwortung für Fehlentscheidungen zu
übernehmen. Fehler werden in allen möglichen/unmöglichen Formen auf andere projiziert.
Menschen manipulieren, zwingen, bekämpfen und töten sich gegenseitig." Wie könnten die
Mitglieder kranker Gesellschaften von ihrem Narzissmus befreit werden, der ja offenbar
Ursache für das von Ihnen formulierte Verhalten ist?
Dr. Gertrud Müller: Das ist eine sehr gute und zugleich schwierige Frage: Menschen verhalten sich, so wie sie es gelernt haben. Haben sie von narzisstischen
Vorbildern ein narzisstisches Verhalten gelernt, wird das kaum reflektiert. Der
narzisstischen Person selbst ist ihr Verhalten vertraut und für sie selbst fühlt sich das
narzisstische Verhalten normal an. Leider verfügen narzisstische Persönlichkeiten über
wenig Empathie und können sich deshalb wenig in andere einfühlen; Sie sind jedoch
interessiert und auch bereit Führungspositionen zu übernehmen und führen gern andere
Personen.
Die einfühlsameren und gefügigeren Personen folgen gern dem, was ihnen angeordnet
wird und wehren sich selten gegen Vorschriften.
So verfestigt sich in den meisten Gesellschaften eine relativ narzisstische Oberschicht
und eine relativ unterwürfige Unterschicht. Beide sind mehr oder weniger in ihren
Verhaltensmustern gefangen und können ihre wechselseitigen Macht- und
Ohnmachtsspiele kaum durchschauen.
2019 habe ich deshalb das Buch geschrieben "Machtspiele waren gestern" um diese
Zusammenhänge zu erläutern und Menschen Mut zu machen, diese kranken Spiele zu
erkennen und auszusteigen.
Helga König: Am 30.12. 2022 schrieben Sie "Jedes Wissen hat ein Verfallsdatum; viele halten dennoch
lieber an engen, altem und tradiertem Wissen fest. Das Leben bietet auch ganzheitliche und
natürliche Lebensmöglichkeiten an mit zahlreichen Wirkungen und Relativitäten." Können dies
bitte näher erläutern?
Dr. Gertrud Müller: Vor ca. 100 Jahren galt der Aderlass als anerkannte medizinische Methode, obwohl auch
viele Menschen gerade wegen dem Aderlass gestorben sind, wie wir heute wissen,
Aderlass ist nur in wenigen Fällen eine geeignete Methode.
Menschen neigen dazu Allheilmittel und Einheitslösungen zu suchen und zu finden, ein
gewonnenes Wissen wird damit zu absoluten Realität erklärt. Eine Lösung für alles, das
erscheint logisch und praktisch.
Das Leben ist jedoch relativ und nicht absolut, das haben die meisten Menschen, auch
viele Gelehrte immer noch nicht verstanden. In dem Glauben, dass ein gewonnenes
Wissen immer Gültigkeit hat wird es wieder und wieder tradiert, obwohl es immer
offensichtlicher wird, dass da etwas nicht stimmen kann.
Nehmen Sie das Beispiel von Galileo, er entdeckte, dass sich die Erde um die Sonne dreht
und nicht umgekehrt, wie von der Kirche behauptet. Er entging nur knapp der Todesstrafe,
weil er dieses Wissen veröffentlichte.
Ignaz Semmelweis erkannte, dass Händewaschen der Ärzte vielen Frauen nach der Geburt
das Leben retten kann, wegen der Übertragung von Krankheitserregern. Wie wurde er
damals von den Kollegen angegriffen und verlacht, obwohl er Recht hatte.
Wissen ist nicht absolut, wenn es in einigen Situationen zutrifft in anderen aber nicht. In
diesen Fällen ist Wissen relativ. Wir müssten viel mehr tradiertes Wissen auf den
Prüfstand stellen um uns als Menschheit weiter zu entwickeln.
Helga König: Sie schreiben Frieden und Harmonie sind Naturgesetze. Wie begründen Sie dies?
Dr. Gertrud Müller: Ich nenne Ihnen ein paar ganz einfache und anschauliche Beispiele:
Schauen Sie Mutter und Kind an, bei Mensch und Tier. Kümmert sich die Mutter um
ihr Kind überlebt es, kümmert sie sich nicht um ihr Kind und gibt es keine Stiefmutter
stirbt das Kind.
Die Natur lässt stärkere Formen des Parasitismus nicht zu, es sterben der Wirt und der
Parasit.
Wann sterben mehr Menschen und Tiere, in Friedens- oder in Kriegszeiten?
Ich beobachte auch immer wieder, dass Menschen aus friedlichen Familien und
Umgebungen gesünder sind.
Helga König: Auch schreiben Sie: "Liebe und Zuversicht sind stärker als Macht, Kontrolle und
Geldgier". Weshalb sind so viele gut ausgebildete Menschen dann primär an Macht,
Kontrolle und Geldgier interessiert?
Dr. Gertrud Müller: Wenn wir das einzelne Leben anschauen kann es sein, dass ein geldgieriger Soziopath
länger lebt als ein liebevoller unterwürfiger Mensch.
Beobachtet man jedoch ganze Generationen und Dynastien, so überleben liebevollere
und zuversichtlichere Sippen, Familien und Gesellschaften länger, während
Soziopathen kaum in der Lage sind für kommende Generationen zu sorgen.
Das beste Beispiel für ein Zusammenlaben in Harmonie und Frieden sind Menschen,
die in sogenannten "bluezones" leben und durch ihren liebevollen, zuversichtlichen
und naturverbundenen Lebensstil gesund bleiben und uralt werden.
Helga König: Sie schreiben zudem: "Wahre Macht ist nicht Macht über andere. Wahre Macht beherrscht
sich selbst: die eigene Empfindlichkeit, die eigene Angst und Wut. Wahre Macht beobachtet Ziele
& Wünsche, das Sprechen & Handeln, die eigene Größe & Schwäche, die eigene Lernfähigkeit,
Fortschritte & Fehler,…" Warum streben Ihrer Ansicht nach nicht nur Despoten das Gegenteil
dessen an, was sie hier beschreiben, ist es Mangel an Erkenntnis? "
Dr. Gertrud Müller: Meiner Beobachtung nach handelt es sich bei Machtgier um kurzsichtiges Denken.
Gerade in der Konsumgesellschaft, sollen Bedürfnisse sofort befriedigt werden. Lebt
ein Mensch immer danach kurzfristige Befriedigung zu erhalten, ist er nicht mehr in
der Lage langfristige Ziele zu fokussieren und anzustreben.
Bei einem Zoom-Meeting erzählte uns der Blackfoot Indianer Pablo Camille Russell
http://www.pablorussell.com/, dass sie in ihrer Kultur lernen Entscheidungen erst zu
fällen, wenn sie sich sicher wären, dass diese Entscheidungen auch 7 Generationen
nachher noch gut für ihre Nachkommen sind.
Wer denkt heute in unserer Wirtschaft über das eigene Leben hinaus, in der Politik,
über die nächste Legislaturperiode? Die Menschen, die so handeln können nichts dafür, auch sie haben es in unserer Kultur nicht anders gelernt.
Wir können jedoch nach innen hören und spüren, die Natur beobachten und von
anderen gerade von den indigenen Völkern sehr viel lernen. Die indigenen Völker
können die Rhythmen der Natur noch hören, die Natur in ihrer Ganzheit wahrnehmen.
Helga König: Auch lassen Sie uns wissen: "Gesellschaftsführer sind verstrickt in Machtspiele, sie verstehen
nicht wie sich Frieden ganz natürlich entwickeln kann. Sie glauben Frieden muss mit Kriegen
erzwungen werden. Die Bürger glauben der Obrigkeit und deren Spuk und spielen das kranke
Spiel mit." Was, wenn man Machtspiele offenlegt?
Dr. Gertrud Müller: Es geht darum zu erkennen, dass das Leben ein Spiel ist. Wir können ein Lieblingsspiel
haben und das immer wieder spielen, oder wir können viel Spiele haben.
Wichtig ist zu erkennen, dass wir Spiele mitspielen und beenden können und dass wir
nicht mitspielen müssen, wenn uns das Spiel nicht gefällt oder schadet.
Wir brauchen uns von niemanden Spielregeln diktieren lassen. Wenn wir das nicht
erkennen sind wir im Machtspiel gefangen.
Helga König: Welche Tugend ist Ihnen am wichtigsten und weshalb?
Dr. Gertrud Müller: Carl Rogers, ein berühmter Professor für Psychotherapie des letzten Jahrhunderts, nannte
3 wichtige Faktoren wie Menschen gelingende Beziehungen aufbauen können:
Empathie, positive Wertschätzung und Echtheit.
Nach meiner Erfahrung sind das die drei wichtigsten Faktoren um liebevolle Beziehungen
zu anderen Menschen aufzubauen.
Ich möchte jedoch betonen, dass auch ich, obwohl ich viel in diesem Fach gelernt habe
und mich beständig in Empathie, Wertschätzung und Echtheit übe, eine Lernende bin und
bleiben werde. Die Lernmöglichkeiten sind im Gegensatz zum Wissen unendlich.
Liebe Gertrud Müller, ich danke Ihnen herzlich für das außerordentlich aufschlussreiche Gespräch.
Herzlich
Ihre Helga König
https://blog-gertrud-mueller.de/
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