Helga König im Gespräch mit Karl Feldkamp, freier Autor, Essayist und Aphoristiker

Lieber Karl Feldkamp, Sie sind freier Autor und schreiben derzeit Essays, Rezensionen, Kurzgeschichten,  Lyrik sowie  Aphorismen.

Helga König: Was bedeutet für Sie Mitmenschlichkeit? 

 Karl Feldkamp
Foto: Barbara Feldkamp
Karl Feldkamp: Als getaufter, inzwischen aber aus der Kirche ausgetretener Katholik bin ich dennoch vor allem christlich geprägt. Mitmenschlichkeit ist für mich ohne (christliche Nächsten-)Liebe nicht denkbar. Mitmenschlichkeit umfasst für mich alles, was dem friedlichen und liebevollen Zusammenleben von Menschen dient. Dazu gehören auch Versöhnung und das Verzeihen von Taten gegen Einzelne und die soziale Gemeinschaft. 

Helga König: Und was verstehen Sie unter Fairness? 

Karl Feldkamp: Sie bedeutet für mich vor allem Chancengleichheit. Wenn dabei auf unserem Planeten noch eine gerechte Verteilung von Besitztümern herauskommt, so ist das gesellschaftlich zwar anzustreben, aber bleibt doch wohl eher utopisch. Zu Gesprächen und einer fairen verbalen Auseinandersetzung gehören für mich Offenheit und die gegenseitige Wertschätzung der jeweiligen Meinungen sowie der Verzicht auf absichtlich herabsetzende persönliche Beleidigungen. Alles, was unter die viel zitierte Gürtellinie geht, ist für mich in jedem Fall unfair. 

 Helga König
Helga König: Sie schreiben: "Manche Menschen lieben ihre Freiheiten so sehr, dass sie diese ungern anderen Mitmenschen zugestehen." Wodurch kommt das Ihrer Meinung nach und welche Folgen hat dies? 

Karl Feldkamp: Die eigene Freiheit endet bekanntlich nicht erst seit Kant dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt. Um Macht auszuüben, nehmen sich allerdings Machthaber die Freiheit, ihren Untergebenen Freiheiten zu entziehen. In einer gelingenden Demokratie sollten möglichst allen Bürgern in gleichem Maß alle Freiheiten zustehen. Jedoch lassen sich nicht nur in kapitalistischen Systemen Freiheiten zum Beispiel durch den Erwerb von Grund und Boden erkaufen. Und so kann der Eigentümer zum Beispiel auf großem Privatbesitz sich Freiheiten herausnehmen, die sich Menschen mit geringem Besitz nicht leisten können. Mit Geld und guten Anwälten lassen sich u.a. zudem manche (Straf-)Freiheiten erkaufen.

Helga König: Sie schreiben auch "Menschen sind leicht zu verführen, wenn man vorgibt, sie für einmalig und überragend zu halten." Wie lässt sich dies jungen Menschen, ohne mahnend den Zeigefinger zu erheben, am besten vermitteln? 

 Karl Feldkamp
Foto: Barbara Feldkamp
Karl Feldkamp: Am besten lässt es sich vermitteln, indem ihnen ermöglicht wird, Selbstsicherheit und Selbstbewusstsein zu gewinnen, denn gerade weniger sichere junge Menschen sind besonders leicht zu verführen. Allerdings bedeutet Selbstsicherheit nicht automatisch immer der Stärkere zu sein. Sich seiner Schwächen und Stärken bewusst zu sein, vermittelt Sicherheit gegenüber den eigenen Fähigkeiten und Unfähigkeiten. Das gilt übrigens für alle Altersstufen und nicht nur für junge Menschen. Und nicht zuletzt sind eine liebevolle und achtsame familiäre Umgebung sowie überzeugende kognitive und emotionale Bildungsangebote unverzichtbar 

 Helga König
Helga König: Können Sie etwas mehr zu dem nachstehenden Gedanken von Ihnen sagen? "Nicht die Angleichung künstlicher Intelligenz an die des Menschen ängstigt mich sondern, dass der Mensch sich der künstlichen Intelligenz anzugleichen versucht."

Karl Feldkamp: Die Arbeitswelt, aber auch unser Privatleben sind inzwischen ohne Computer und Smartphone kaum noch denkbar. Die Unterscheidung zwischen dem tatsächlichen Leben und den digitalen Welten wird mit jeder neuen App und jedem neuen Programm mühsamer. Ja, für uns gehört deren Nutzung längst auch zum realen Leben. Und gerade deswegen halte ich es für absolut notwendig, dass der Mensch mit seiner Intelligenz alle diese Medien weiterhin beherrschen kann und will und sich nicht von ihnen irgendwann unbegrenzt manipulieren lässt und hofft, damit einmalig und überragend zu werden. Die Medien sollten als nützliches Werkzeug des Menschen und nicht als Machtmittel über ihn dienen.

Helga König: Eignet sich folgender Satz dazu, ihn speziell jungen Menschen auf den Weg mitzugeben und wenn ja, weshalb? "Kunst hilft, an Tatsachen nicht zu verzweifeln."

 Karl Feldkamp
Foto: Barbara Feldkamp
Karl Feldkamp: Computer sind berechen- und programmierbare Hilfsmittel und sollten es bleiben. Kunst lässt Träume und weitreichende Phantasien zu. Damit können auch junge Menschen in Welten jenseits der wissenschaftlich berechneten und berechenbaren Realität vordringen. Zum Glück ist nicht alles mit Zahlen zu erfassen. Daher sollten in Kindertagesstätten und Schulen auch musische Fächer zu den Hauptfächern gezählt werden. Im übrigen ist Computerkunst nicht die Kunst des Computers sondern die seiner Programmierer. 

 Helga König
Helga König: Sie schreiben: "Kinder haben eine gewisse Logik. Erwachsene sollten mit Widersprüchen leben können.“ Wieso sollten wir das?

Karl Feldkamp: Kinder haben einen zumeist noch unverstellten Blick von der Wirklichkeit und entwickeln daraus ihre einfache und für sie relativ gut lebbare Logik. Diese wird von Erwachsenen gern belächelt, da sie nicht mehr deren ungleich größeren Erfahrungen entspricht. Im Laufe ihres Lebens haben sie diverse Widersprüche kennenlernen müssen, die allerdings durchaus ihren Werten zuwider laufen. Dennoch gilt es, damit zu leben, ohne die notwendigen eigenen Werte aufzugeben. Denn wer an jenen Widersprüchen zerbricht, wird sie kaum nachhaltig verändern können . So ist der Liebe keineswegs gedient, wenn ich wegen der Gewalt und des Hasses resigniere und mein Eintreten für den Frieden aufgebe. 

Helga König: "Ihre Boshaftigkeit können wir nicht verleugnen. Dennoch gilt es zu leben, als ob eine bessere Menschheit möglich sei." Welchen Sinn hat dies? 

 Karl Feldkamp
Foto: Barbara Feldkamp
Karl Feldkamp: Ich halte es mit Martin Luther Kings "I have a dream." Natürlich werden immer wieder Kriege geführt und gerade zurzeit drohen nicht nur diktatorische Machthaber einiger Länder mit Kriegen. Andere führen sie bereits. Wenn ich mich jetzt dahingehend realistisch gäbe, dass Kriege unvermeidlich seien, arbeitete ich der Rüstungsindustrie und den Kriegstreibern zu. Nun habe ich nicht die Macht, Kriege wirkungsvoll und umgehend politisch zu verhindern. Aber ich kann versuchen, meinen inneren Frieden sowie den mit meinen Nachbarn, Freunden und anderen Mitmenschen zu leben. Im übrigen versuche ich, weder verbal, noch psychisch oder gar körperlich Gewalt auszuüben, was mir sicherlich nicht immer gelingt. Dennoch bin ich bemüht, danach um Verzeihung zu bitten und mich möglichst schnell zu versöhnen. Als Autor ist die Liebe und das friedliche Zusammenleben immer wieder mein Thema, auch wenn ich weiß, dass Literatur eher wenig bewegt. 

 Helga König
Helga König: "Aufrichtigkeit ist die höchste Form des Mutes." Was ist es, das Menschen diesbezüglich mutlos werden lässt? 

Karl Feldkamp: Wir leben angeblich in postfaktischen Zeiten. Scheinbar führt nicht Aufrichtigkeit, sondern politische und geschäftliche, aber auch persönliche Verschlagenheit zu erheblichen Vorteilen und zu Machtgewinn. Geschickte Lügen werden bevorzugt, vor allem, wenn es gilt, Fehlverhalten zu vertuschen oder Geschäfte zu machen. Aufrichtigkeit erfordert besonderen Mut, vor allem, wenn sie zum Nachteil des Aufrichtigen geraten kann. 

Helga König: "Durch Aufdecken seiner Selbsttäuschung können wir einen Menschen zerstören." Können Sie diesen Satz bitte näher erläutern und wie verhält er sich zum Satz "Aufrichtigkeit ist die höchste Form des Mutes."? 

 Karl Feldkamp
Foto: Barbara Feldkamp
Karl Feldkamp: Ein Mensch, der sich ein, für ihn glaubhaftes Selbstbild zurecht gelegt und versucht hat, sein bisheriges Leben danach auszurichten, verliert sicherlich seinen Halt, wenn er nicht mehr danach leben kann, weil es ihm plötzlich und unwiderruflich als Irrtum vorgehalten wird. Es ist daher immer abzuwägen, ob jemand berechtigt ist, ihm dieses Bild und damit seine bisherige Persönlichkeitsgrundlage zu nehmen. In jedem Fall ist dabei Vorsicht und viel Einfühlungsvermögen erforderlich. Im übrigen hat die Wahrheit immer individuelle Anteile. Somit hat auch Aufrichtigkeit einen Anteil, bei dem allenfalls so etwas wie das persönlich beste Wissen und Gewissen zählt. Dennoch gilt ich meine besondere Hochachtung jenen Menschen, die sich stets um Aufrichtigkeit bemühen.

Lieber Karl Feldkamp, ich danke Ihnen vielmals für das aufschlussreiche Interview.
Ihre Helga König

Anbei der Link zur Homepage von Karl Feldkamp:http://karl-feldkamp.de.tl/

Helga König im Gespräch mit #Heinrich_Tenz, Unternehmer - Berater - Coach - Management - Geschäftsprozesse - SAP, SD & MM - Social Media

Lieber Heinrich Tenz, Sie beschreiben sich auf einem Ihrer Twitter Profile wie folgt: Solo-Unternehmer - Berater - Coach - Management - Geschäftsprozesse - SAP, SD & MM - Social Media und immer offen für Neues und Interessantes. Dort auch erfährt man, dass Sie in Fürstenwalde an der Spree leben und Ihrer Homepage entnimmt man, dass Sie aufgrund Ihrer beruflichen Projekte im gesamten Bundesgebiet  tätig sind. Auf Twitter zeigen Sie sich überaus menschenfreundlich, weil Sie dort viel für andere tun.

Helga König:  Wie wichtig ist für Sie Mitmenschlichkeit?

 Heinrich Tenz
Foto: Detlev Schilke
Heinrich Tenz: Zuerst vielen herzlichen Dank für Ihre Wertschätzung. Ich freue mich, Teil Ihrer Interviewserie zu sein. Zur Frage: Meine Mutter hat ein serbisches Hungerlager nach dem zweiten Weltkrieg nur deshalb überlebt, weil serbische Menschen ihr aus Mitleid etwas zu essen gaben. Da es serbische Menschen waren, die das Hungerlager errichtet und geführt haben, aber auch serbische Menschen, die Mitleid mit dem 14-jährigen Mädchen hatten, kann ich niemanden ohne genau hinzusehen pauschal ablehnen und verurteilen. Jeder Mensch jeder Nationalität kann menschlich sein, es liegt an jedem selbst. Für mich ist Mitmenschlichkeit etwas immens Wichtiges. Sie ist die Basis menschlichen Zusammenlebens, die Basis für jede Gesellschaft. Ohne Mitmenschlichkeit sind Menschen Monster. 

Wer das nicht glaubt, braucht sich nur in Erinnerung zu rufen, was Menschen in Kriegen anstellen. Was passiert denn immer dann, wenn beispielsweise Menschen anderer Religion oder Gesinnung nicht als Menschen gesehen werden? Ich hoffe, gerade wir hier in Deutschland können uns noch daran erinnern, wohin das führen kann. Mitmenschlichkeit ist in jedem Menschen angelegt. Die meisten Menschen wissen instinktiv, dass ein Gegeneinander alle verlieren lässt, ein Miteinander alle gewinnen. Ohne Mitmenschlichkeit wäre das Leben sinnlos und nicht lebenswert. Ich lebe gern; deshalb ist für mich Mitmenschlichkeit einer der höchsten Werte. 


 Helga König
Helga König: Welchen Stellenwert hat in Ihrem Leben Fairness?

Heinrich Tenz: Ich lege Wert darauf, fair behandelt zu werden. Deshalb versuche ich, meinerseits alle Menschen, mit denen ich zu tun habe, anständig und gerecht zu behandeln. Ich weiß, dass in unserer westlichen Welt das Wohl der Wirtschaft oft über das Wohl der Menschen gestellt wird. Dabei werden die Menschen gerne gegeneinander ausgespielt. Die Konkurrenz wird geschürt und Sündenböcke werden gesucht. Viele empfinden das als unfair und wenden sich vom politischen Geschehen ab, gehen nicht mehr wählen oder fallen auf populistische Manipulierer rein.

Mein Wunsch wäre eine Welt, in der jeder seinen Mitmenschen anständig und wertschätzend begegnet, in der die Menschen verstehen, dass sich Menschen nur miteinander entwickeln können. Auch unsere Gesellschaft kann sich nur durch ein faires Miteinander entwickeln. Die Geschichte hat gezeigt, dass, wenn Ungerechtigkeit und Unterdrückung ein sinnvolles (Zusammen-)Leben unmöglich machen, blutige Auseinandersetzungen und Revolutionen aufkommen. Weiterhin haben Konkurrenzkampf zwischen den Ländern und Geringschätzung der Natur und Umwelt unsere Lebensgrundlagen an der Rand der Vernichtung manövriert.

Die Aussage, dass der Mensch es verursacht hat, dass sich das Klima ändert, kann möglicherweise nicht bis ins letzte Detail wissenschaftlich untermauert werden. Fakt ist, dass Arten aussterben, unsere Lebensmittel auf biologisch toten Äckern und künstlich in Fabriken produziert werden, und dass das Wetter immer extremer wird. Dabei hat sich herausgestellt, dass der Mensch der Natur hoffnungslos unterlegen ist. Auch wenn er glaubt, alles im Griff zu haben, kann er weder Hurricans, Tornados, Tsunamis oder Erdbeben verhindern. Wir sollten also nicht nur mit Menschen fair und angemessen umgehen, sondern auch mit Tieren und unserer natürlichen Umgebung.

Helga König: Sie haben am 3.März 2018 einen Link von Greenpeace gemeinsam mit einem Kommentar von Ihnen gepostet. Der Kommentar lautet: "In einer Welt ohne Regeln siegt der Starke immer über den Schwachen." Weshalb haben Sie diesen Kommentar formuliert? 

  Heinrich Tenz
Foto: Detlev Schilke
Heiner Tenz: Das ist die Überschrift des Artikels. Ich habe sie unverändert übernommen, weil sie mir angemessen provokant erschien. Diese Aussage gilt aus meiner Sicht jedoch nur eingeschränkt; auch in dem Kontext, aus dem sie stammt. Es geht in dem Artikel um den Protektionismus von Donald Trump, um seinen Traum von America first. Es geht darum, dass Trump die USA für so stark hält, dass er sich nicht mehr an bisher geltende internationale Regeln halten muss. Das kann in einer global vernetzten und voneinander abhängigen Welt schwerwiegende Folgen haben. 

Es muss jedoch nicht so sein, dass der Starke über den Schwachen siegt. Ich halte es durchaus für möglich, das sich der Starke auch selbst besiegen kann. Beispielsweise haben sich die USA in Vietnam selbst besiegt, weil sie glaubten, überlegene Waffen allein würden den Sieg garantieren. Außerdem gilt diese Aussage nur im Verhältnis ein Starker gegen einen Schwachen. Sobald es mehrere Schwache sind, gegen die der Starke gewinnen will, und diese Schwachen begreifen, dass sie gemeinsam gegen den Starken bestehen können, ändern sich die Verhältnisse, und letztlich dann auch wieder die Regeln. 

  Helga König
Helga König: Sie erwähnen auf Ihrer Homepage, dass Sie sich für Persönlichkeitsbildung interessieren. Worin sehen Sie den Wert einer ausgereiften Persönlichkeit im Hinblick auf ein positives Miteinander?

Heinrich Tenz:  Eine ausgereifte Persönlichkeit ist wenig anfällig für Manipulationen aller Art. Beispielsweise Werbung. Als ausgereifte Persönlichkeit brauche ich mich nicht mehr durch Accessoires aufwerten, etwa ein schnelles Markenauto oder einen die Frauen betörenden Duft. Ich brauche keine Gegenstände mehr und auch keinen materiellen Erfolg, um zu spüren, dass ich ein vollständiger und wertvoller Mensch bin. Wer wirklich gereift ist, braucht sich auch nicht mehr über andere zu stellen; er kann auf Augenhöhe jedem Menschen wertschätzend gegenübertreten. Ich sehe wirklich viele Vorteile.

Gereifte Menschen hören einander besser zu, würdigen sich nicht gegenseitig herab, oder intrigieren auch nicht, um einen Konkurrenzkampf zu gewinnen. Wer in sich selber ruht, braucht sich nicht besser zu fühlen als seine Mitmenschen. Er wird auch weniger Angst haben und braucht daher auch keine Feindbilder mehr. 

Eine ausgereifte Persönlichkeit weiß, wie wichtig es ist, anderen Menschen Wertschätzung entgegenzubringen. Sie kennt die Vorteile gewaltfreier Kommunikation und wird sehr stark nach Gemeinsamkeiten und Kooperationsmöglichkeiten suchen. Ein ausgereifter Mensch definiert sich aus seiner Menschlichkeit und sieht seine Mitmenschen auch aus diesem Gesichtspunkt. Vor allem in der Politik brauchen wir viel mehr ausgereifte Persönlichkeiten, weltweit. 

Helga König: Sie haben eine beträchtliche Anzahl von Followers. Was können diese durch Sie lernen? 

  Heinrich Tenz
Foto: Detlev Schilke
Heinrich Tenz: Normalerweise bin ich schnell dabei, mein Tun zu hinterfragen. Jetzt merke ich jedoch, dass ich meine Twitter-Aktivitäten in Hinblick darauf, was meine Follower von mir lernen könnten, noch nie betrachtet habe. Es gibt keinen Plan. Ich habe unwahrscheinlich viel für mich durch meine Twitter-Aktivitäten gelernt. Mir wird manchmal gesagt, dass ich mich gut als Lehrer eignen würde. Doch das wollte ich nie sein. Insofern sollen meine Twitter-Aktivitäten höchstens ein Beispiel sein, wenn sie denn dafür taugen. Twitter war und ist für mich eine Art emanzipatorisches Spielzeug. Es unterstützt meine Persönlichkeitsbildung. Klingt vielleicht komisch, aber ich habe mit Twitter gelernt, mich viel mehr zu trauen als vorher. Ich habe dort gelernt, ohne Scheu einfach auf fremde Menschen zuzugehen. Da fällt mir ein, dass für mich immer Menschen hinter den Accounts stehen. Mir kam nie der Gedanke, es mit irgendetwas Automatischem, etwas Unbelebten zu tun zu haben. 

  Helga König
Helga König: Als Hobbyprojekt betreiben Sie das "Deutsch Tweetor". Dort geben Sie Folge-Empfehlungen, genannt Tagesempfehlungen und schreiben, dass vor allem Anfänger hier gute Hinweise erhalten, wem sie folgen können. Nach welchen Kriterien wählen Sie die Folge-Empfehlungen aus? 

Heinrich Tenz: "DeutschTweetor" habe ich bis auf ein paar Automatiken stillgelegt, weil sich einerseits meine Prioritäten verschoben haben, und daher andererseits mir zu wenig Zeit für dieses Projekt bleibt. Die Folge-Empfehlungen habe ich bereits vor einiger Zeit eingestellt. Diese Empfehlungen sind natürlich sehr subjektiv gewesen. Es gab jedoch ein paar Kriterien, um in die Tagesempfehlungen aufgenommen zu werden. Ein Kandidat für die Empfehlungen sollte mir sympathisch sein. Wer mir sympathisch erscheint, ist möglicherweise auch für andere interessant, dachte ich. Es sollte also ein Bild, zumindest ein Logo oder so etwas vorhanden sein. Außerdem sollte die Bio ausgefüllt und der Account nicht privat (gesperrt/eingeschränkte Sichtbarkeit) sein. Der Twitterer sollte interaktiv agieren, also auch mal retweeten, andere empfehlen, neue Follower begrüßen oder sich mit anderen Twitterern unterhalten. Ich habe nur Twitterer gelistet, die mir folgten. 

Gegenseitiges Folgen war Pflicht, damit auch die Chance bestand, dass neue Twitterer gute Follower bekamen. Der Twitterer sollte interessant und informativ twittern (politisch und religiös möglichst neutral). Das alles war allerdings schwer zu beurteilen. Auf jeden Fall kamen Twitterer, die nur Werbetweets von sich gaben, nicht infrage. Insgesamt waren etwa 800 Twittterer auf meiner Liste, und es dauert über drei Wochen, bis die Empfehlungsrunde einmal durch war. Der Aufwand, diese Liste zu pflegen war mir irgendwann zu hoch. Pflegen bedeutete, nach jedem Turnus die inaktiven und die geschlossenen Accounts zu entfernen und neue aufzunehmen. Das Erstellen der Tweets hatte ich allerdings gut automatisiert, und zwar in einer Weise, dass sich bei jedem neuen Empfehlungsturnus die Reihenfolge geändert hat.

Helga König: Was möchten Sie unseren Lesern im Hinblick auf Algorithmen mitteilen? 

  Heinrich Tenz
Foto: Detlev Schilke
Heinrich Tenz: Wikipedia schreibt, dass ein Algorithmus eine "eindeutige Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems oder einer Klasse von Problemen" ist. Verwendet werden Algorithmen vor allem bei der Programmierung. Jedes Computerprogramm enthält eine Reihe von festgelegten Programmschritten, um eine oder viele Aufgaben zu lösen. Wer sich im Internet bewegt, hat es immer mit Programmen zu tun. Facebook ist ein Programm ebenso wie Twitter oder XING. Diese Programme ermöglichen es den Anwendern (beinahe direkt), miteinander zu kommunizieren. Gleichzeitig sorgen Algorithmen dafür, dass den Anwendern möglichst die Inhalte angezeigt werden, die sie interessieren könnten, und - wichtig - die für Werbeeinnahmen sorgen. Das ist keine wirklich intelligente Programmierung, sondern diese Algorithmen laufen immer in der gleichen Weise ab und dienen einem Zweck. 

Auch Künstliche Intelligenz besteht aus Programmen, also aus Algorithmen. Diese Algorithmen sind von Menschen gemacht, die Maschinen, die Computer sind nicht intelligenter als Menschen. Auch wenn es bereits Algorithmen gibt, über die Computer lernen können, sind sie nicht intelligenter als Menschen. Sie sind schneller und können wesentlich größere Mengen an Informationen verarbeiten und dadurch schneller Schlüsse ableiten. Jeder sollte sich bewusst machen, dass Algorithmen immer mehr unser Leben beeinflussen. Beispielsweise werden inzwischen Algorithmen bei der Bewerberauswahl eingesetzt oder stellen wie ein Arzt Diagnosen. 

Angeblich sind sie bei der Diagnose treffsicherer als Ärzte. Diese Algorithmen hangeln sich an Informationen entlang und setzen diese Informationen miteinander in Beziehung. Dadurch können sie Zusammenhänge erkennen und Schlüsse ziehen, allerdings jedoch niemals die Qualität weder der Informationen noch der Schlussfolgerungen einschätzen. Daher finde ich, wie übrigens auch viele Personaler in Deutschland, dass die Beurteilung eines Bewerbers nicht allein durch Computer erfolgen sollte. 

Jeder Mensch sollte sich auf seine menschlichen Qualitäten besinnen. Algorithmen sind Gleichmacher. Unsere Menschlichkeit macht den Unterschied. In den sozialen Medien sollte sich jeder bewusst machen, dass es von Menschen eingerichtete Algorithmen sind, welche die Informationen auswählen, die ihm angezeigt werden. Auch wenn Social Media außer Zeit nichts kosten, verdienen die Unternehmen damit Milliarden. Um diese Gewinne sicherzustellen, müssen die Algorithmen geeignet sein, den Geldgebern (überwiegend Werbekunden) zu garantieren, dass sie für ihr Geld auch einen entsprechenden Gegenwert bekommen. Hinter den Algorithmen stehen also Interessen. Dessen sind sich viele Social Media Nutzer leider nicht bewusst. 

  Helga König
Helga König:  Sie schreiben, dass Sie sich für digitale Transformation interessieren. Weshalb wäre es sinnstiftend, dass sich möglichst alle Menschen mit diesem Thema befassen? 

Heinrich Tenz: Die digitale Transformation ist kein Hype, sie findet statt und ist schon längst Teil unseres Lebens. Es wird bereits sehr ausführlich über die Auswirkungen diskutiert. Jeder sollte wissen, dass wir momentan nur über die zukünftige Entwicklung spekulieren können. Es gibt Wahrscheinlichkeiten, die jetzt schon absehbar sind. Etwa der Verlust von Millionen Arbeitsplätzen, bei denen Maschine die Arbeit einfacher und schneller verrichten können. Es gibt jedoch so viele Faktoren, die zu berücksichtigen wären, so dass alle Voraussagen einen großen Anteil an Spekulation in sich tragen. 

Ich kann jedem nur empfehlen, sich damit zu beschäftigen, was momentan alles diskutiert wird. Wer informiert ist, kann sich besser auf die kommenden Umstellungen einstellen. Es geht auf keinen Fall darum, zu bedauern, was alles durch die digitale Transformation kaputtgehen wird. Das ist sinnlos, wir wissen es noch nicht. Es geht daher vielmehr darum, Wege für sich selbst zu finden, um mit den Veränderungen besser umgehen zu können. 

Die digitale Transformation wird sich ebenso wenig aufhalten lassen, wie die industrielle Revolution vor 200 Jahren. Daher ist es wichtig, sich seine Menschlichkeit zu bewahren und sich möglichst gut auf die Veränderungen einzustellen. Die Menschlichkeit ist wichtig, um sich von den Maschinen zu unterscheiden. Denn alles, was Maschinen erledigen können, werden Maschinen erledigen. Menschen werden für all das gebraucht, wofür sich Maschinen nicht eignen. 

Das gilt es herauszufinden. Es gibt einen weiteren Aspekt, der mehr politisch ist. Der Einsatz von Maschinen beziehungsweise Robotern muss geregelt werden. Es gilt sehr genau darauf zu achten, wo Maschinen zwar schneller und effektiver sind, jedoch aufgrund mangelnder Menschlichkeit fatale Entscheidungen treffen könnten. 

Mir fällt beispielsweise ein, dass darüber geredet wird, Computer in der Rechtsprechung einzusetzen. Sie können wesentlich schneller alle Gesetzbücher durchforsten und somit zu einem auf den ersten Blick klareren Urteil kommen. Andererseits frage ich mich, ob ein Computer jeweils dazu in der Lage sein kann, alle Umstände korrekt zu werten, die einen Menschen zu einer Tat gedrängt haben, also so etwas wie menschliches Ermessen haben können. 

Außerdem steht zu befürchten, dass, weil Computer keine Zweifel haben können, der Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten" dann nicht mehr angewendet werden kann. Ein weiterer ganz wichtiger Punkt bei der digitalen Transformation ist die Entwicklung neuartiger Waffentechnologien. Beispielsweise kleine Flugroboter, die Menschen gezielt auffinden und töten können. Dafür muss es eine Überwachung geben. Denn es ist kaum auszudenken, was passiert, wenn eine solche Technologie in die falschen Hände gerät.

Helga König: Welchen Sinn sehen Sie in den sozialen Medien und welche Gefahren gehen von ihnen aus? 

  Heinrich Tenz
Foto: Detlev Schilke
Heinrich Tenz: Die Sozialen Medien haben uns die Möglichkeit gebracht, mit Menschen fernab von unserem Wohn- oder Aufenthaltsort in Kontakt zu kommen, mit ihnen zu kommunizieren, zu diskutieren und sogar Freundschaft zu schließen. Ich genieße das, mir ist das sehr wichtig geworden. Es ist schön, die Meinungen anderer Menschen zu erfahren. Das bereichert meine Welt. Inzwischen kann ich vieles verstehen, was mir vorher fremd war. Das setzt natürlich Offenheit gegenüber meinen "Mitbewohnern" in den sozialen Netzwerken voraus. 

Das ist auch genau der Punkt, wo viele Gefahren lauern. Menschen, die ihre eigene Meinung für die einzig richtige halten, neigen im World Wide Web häufiger dazu, andere "niederzuschreiben", spätestens wenn ihnen das Verständnis und die Argumente ausgehen. Eine weitere Gefahr geht von den Algorithmen aus, welche die Betreiber sozialer Netzwerke einsetzen, um auf der einen Seite ihre Anwender bei der Stange zu halten, und andererseits ihre Finanziers, die zahlenden Werbekunden, von der Wirksamkeit ihres Engagements zu überzeugen. 

Die Algorithmen sorgen auch dafür, das "Filterblasen" entstehen oder verstärkt werden. Jeder Anwender bekommt nur die Nachrichten zu sehen, die das Programm gemäß dem fest verdrahteten Algorithmus für ihn auswählt. Alles andere ist schwer zu finden. Damit bestärken und unterfüttern die sozialen Netzwerke die bestehenden Meinungen. Gleichzeitig können Anwender, die sich weniger selbstreflektiert und hinterfragend durch die virtuellen Gefilde bewegen, in Richtungen abdriften, die der Gesellschaft schaden. Dabei schaden sie sich auch selbst, ohne es zu bemerken. Ich meine damit vor allem die hasserfüllten Poster. 

  Helga König
Helga König:  Hat sich Ihre Sicht im Hinblick auf Ihre Mitmenschen im Laufe der Jahre durch die sozialen Netzwerke entscheidend geändert? 

Heinrich Tenz: Ich habe eine größere Vielfalt bei den Menschen feststellen dürfen. Dabei habe ich viele neue Facetten erfahren können. Mich hat das in meiner Sicht bestärkt, dass meine Mitmenschen zwar sehr unterschiedlich sind, ich jedoch allen mit Respekt und Wertschätzung gegenübertreten will. Es ist mir noch wichtiger geworden, keine pauschalen Urteile zu fällen, überhaupt mir ein Urteil anzumaßen, bevor ich nicht genau gehört habe, was mein Gegenüber antreibt. Ein für mich wichtiger Punkt ist, dass ich mehr und mehr versuche, mich von der Einschätzung "gut und böse" oder "richtig und falsch" wegzubewegen. 

Ein weites Feld, zugegeben. Es geht mir darum, immer weniger zu urteilen, Menschen in Schubladen zu stecken. Und es geht mir darum, auch meinen eigenen Standpunkt immer wieder infrage zu stellen. Nur dann habe ich die Chance, meine Mitmenschen wirklich zu verstehen. Meine Sicht auf meine Mitmenschen hat sich erweitert, aber ich glaube nicht, dass sie sich entscheidend geändert hat. Durch diese Hasspostings und Shitstorms scheint es so, als wären viele Menschen frustrierter geworden. Ich sehe das jedoch nicht so. Das war alles bereits vorher gegeben. Es wurde nur durch die Öffentlichkeit der soziale Netzwerken sichtbarer als zuvor.   

Lieber Heinrich Tenz, ich danke Ihnen herzlich für das aufschlussreiche Interview

Ihre Helga König

Anbei der Link zur Homepage von Heinrich Tenz: https://about.me/HeinerTenz

Helga König im Gespräch mit Raimund Schöll, Soziologe, Organisations- und Paarberater, Coach und Autor von bemerkenswerten Büchern.

Lieber Raimund Schöll, Sie sind Soziologe, Organisations- und Paarberater, Coach und Autor von bemerkenswerten Büchern. Die Leser von "Buch, Kultur und Lifestyle" kennen Sie durch Ihr Werk "Alltagsfluchten", das ich rezensiert habe und zu dem wir beide im Onlinemagazin zudem ein Interview realisiert haben. 

Helga König: Am 1.3. 2018 haben Sie eine Sentenz von Max Weber getwittert, die da lautet "Die Menschen sehnen sich nach Authentizität, nach Glaubwürdigkeit und nach sachlicher Leidenschaft."  Haben Sie den Eindruck, dass Webers Feststellung heute mehr denn je gilt und wenn ja, weshalb?

 Raimund Schöll
Raimund Schöll: Danke für die Einladung zum Interview. Und gleich eine erste interessante Frage, die Sie da stellen. Max Weber hat dieses Statement wohl in erster Linie auf Politiker bezogen. Ich bin zufällig darauf gestoßen. In seinem Vortrag "Politik als Beruf" sagt er, Politiker sollten vor allem über drei Qualitäten verfügen: sachliche Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und distanziertes Augenmaß. Angesichts der vielbeschworenen Politikverdrossenheit trifft Webers Sehnsuchtshypothese in meinen Ohren auch heute noch einen Nerv. Allerdings, scheint mir, kann man es sich mit dieser Sehnsucht auch einfach machen. 

1. Wenn sie impliziert, dass es Politiker solcher Qualität selten oder kaum gibt, was ich bezweifle und 2. dass man Opfer dieses vermeintlichen Mangels an aufrichtigen Vorbildern ist. 

Vielleicht überstrapazieren wir ja unsere Erwartungen an Politiker und unterschätzen die Bedeutung unsere eigenen Beiträge in der Gesellschaft. Auch der Politiker kocht ja sprichwörtlich nur mit Wasser. Webers Satz kann man insofern auch als Ansporn verstehen, als Ansporn für sich selbst, für uns. 

 Helga König
Helga König: Was ist Ihrer Meinung nach ein sinnstiftendes Miteinander?

Raimund Schöll:  Die Frage nach dem Sinn ist ja grundsätzlich immer eine interessante, andererseits aber auch unentscheidbare Frage, die nur jeder für sich selbst beantworten kann. Wozu und wofür leben wir? Wer könnte darauf schon eine allgemeingültige Antwort geben? 

Aber um an Ihre Frage anzuknüpfen - Ich würde es mal so herum probieren: Der Mensch ist ein soziales Wesen, somit wäre die Frage nach einem sinnstiftenden Miteinander schnell beantwortet: Wir leben zusammen, weil wir aufeinander angewiesen sind. Wir brauchen die Resonanz des anderen, andernfalls werden wir sonderbar, wenn nicht verrückt. Oder wie das mal der US-amerikanische Soziologe Amitai Etzioni gesagt hat: "The Me needs the We to be." 

Der Sinn sind also wir selbst. Wenn Menschen nun noch ein bewussten und gemeinsamen Sinn miteinander stiften sollten, und darauf zielt ja Ihre Frage ab, würde ich sagen, ist ein sinnstiftendes Miteinander dann, wenn man sich hinter sinnvollen Anliegen bzw. Projekten versammelt, die über das reine Ego-Interesse hinaus gehen. Ein gemeinsames Tun also, was der Welt und anderen und damit auch mir selbst irgendwie weiterhilft. Das kann ein gemeinsames Engagement bei der Freiwilligen Feuerwehr sein genauso sowie das Führen eines Dritte-Welt-Ladens oder die Zusammenarbeit in einem Unternehmen. Für ein langfristig gelingendes Miteinander - in welcher Form auch immer - ist Sinnstiftung – das sagt auch meine Erfahrung als Berater – schlechthin unumgänglich. 

Menschen brauchen eine Sinnbegründung. Allerdings muss auch erlaubt sein, den Sinn einer Sache hin und wieder in Frage zu stellen, um gegebenenfalls einen neuen zu finden. Sinngebung ist meiner Erfahrung nach ein sozialer Prozess, kein Zustand. In meiner Beratungspraxis hatte ich in letzter Zeit viele interessante Fälle, Anliegen, Projekte in Unternehmen bei denen sich die Sinnfrage direkt oder indirekt gestellt hat. 

Helga König: Für wie wichtig halten Sie Fairness in Organisationen und Paarbeziehungen?

 Raimund Schöll
Raimund Schöll: Für sehr wichtig. Fairness ist in allen sozialen Beziehungen ein zentrales Thema. Eine faire Beziehung beruht darauf, dass einer den anderen respektvoll und anständig behandelt und dies auf Gegenseitigkeit beruht. Ein Vertrag quasi und die stillschweigende Übereinkunft darüber, dass wenn einer unfair gehandelt hat, eine Art Ausgleich erfolgt, ja erfolgen muss. Will sagen: Situativ unfaire Akte lassen sich im Alltag kaum vermeiden, aber die Folgen einer erkannten Unfairness können und müssen ausgeglichen, zumindest abgemildert werden. Wenn ich auf dem Fußballfeld faul gespielt habe, kann ich das zwar nicht mehr rückgängig machen, aber ich kann mich entschuldigen oder dem anderen aufhelfen, wenn er schon wegen mir auf dem Boden liegt. 

Ein Chef, der in der Besprechung ungerechtfertigt die Contenance verliert, kann dies nicht mehr rückgängig machen, aber er kann sich entschuldigen und noch auf andere Arten dem Mitarbeiter zeigen, dass ihm die Sache leid tut. Erfolgen solche Ausgleichshandlungen nicht, kommt es langfristig zu schweren Beziehungskonflikten, die im Extremfall zerstörerisch wirken. Unfairness kommt natürlich auch in Paarbeziehungen vor. Der, der immer nur gibt und der andere der andere immer nur nimmt. Der, der sich fortwährend in den Vordergrund schiebt und der andere, der ein Mauerblümchendasein fristet. Der, der immer am Schalthebel sitzt und bestimmt, der andere, der immer nur ohnmächtig folgen muss etc.. Wenn Paare aus diesem Teufelskreislauf, der am Anfang oft gar nicht als solcher wahrgenommen wird, keinen Ausstieg finden, wird es brisant. Es gibt es übrigens ein interessante Buch eines Kollegen, das ich in diesem Zusammenhang nur wärmstens empfehlen kann. Es heißt "Tödliche Konflikte". Darin werden die Entstehungsbedingungen von Kriegen und anderen Konflikten aus systemtheoretischer Perspektive analysiert. Ergebnis ist, dass es bei vielen Auseinandersetzungen überraschenderweise eben nicht um kühle und rationale Interessensfragen geht, sondern sehr oft um scheinbar so antiquierte Werte wie Stolz, Ehre und Status.

  Helga König
Helga König: Sie haben dieser Tage einen Gedanken von Cees Nooteboom getwittert. Er lautet: "Siegen bedeutet nichts, mein Junge. Siegen hinterlässt keine Spuren, ist nur Befriedigung. Verlieren ist Leben. [...] Verlieren ist Leben, Siegen ist Tod, denn danach gibt es nichts mehr." Was ging Ihnen spontan durch den Kopf als Sie den Satz gelesen haben und glauben Sie, dass dieser Satz Menschen mehr gibt als nur Trost?

Raimund Schöll: Dieser Satz hat mich berührt. Ich finde, dass das Siegen in unseren Sphären überbewertet ist. Es scheint mir immer nur der zu zählen, der sich durchgesetzt, der etwas Herzeigbares erreicht hat. Der wird gefeiert und verehrt. Der Verlierer hingegen wird bedauert und stehen gelassen, man wendet sich peinlich berührt von ihm ab, unter Umständen wird noch Häme über ihn ausgeschüttet. Ich gebe zu: ich habe gewisse Sympathien fürs Verlieren.

Ich persönlich habe aus meinen Niederlagen viel gelernt. Menschliche Reife erlangt man vielleicht sogar eher durch Niederlagen als durch ständige Siege. Und: Anständig scheitern will auch gelernt sein. Ob dieser Gedanke für den einen oder anderen mehr als nur ein Trost sein könnte, vermag ich nicht zu sagen.

Helga König: Sie twitterten auch: "Merke: Diktatoren, Autokraten - also unreife Persönlichkeiten brauchen Kriege. Wenn du solche wählst, kriegst du Krieg." Weshalb begreifen selbst halbwegs gebildete Menschen diesen Satz nicht und treffen die falsche Wahl?

 Raimund Schöll
Raimund Schöll: Dieser Tweet entstand wohl deswegen, weil ich ziemlich genervt bin von dem aktuell wieder auferstehenden Aberglauben, dass uns vermeintlich starke Figuren als Heilsbringer aus der Krise und unseren Nöten helfen. Die Auftritte diverser Despoten im Ausland, aber auch von pseudoheldisch und autoritär auftretenden Politikfiguren im Inland sind für mich an Lächerlichkeit kaum zu überbieten. Kabarettisten, Schriftsteller und Komiker - ich denke da zB an Charlie Chaplin – bringen dies ja immer wieder und Gott sei Dank und trefflich aufs Tableau. Doch gibt es scheinbar nicht wenige Abnehmer dieses Habitus’. Und genau dies bereitet Sorge. Denn hinter einem präpotenten narzisstischen Selbstausdruck verbergen sich oft erhebliche Persönlichkeitsdefizite - sprich menschliche Unreife. "Das arme Würstchen", das sich hinter dem Größenselbst eines autokratischen Führers verbirgt, sehen viele vielleicht tatsächlich nicht, und vielleicht wollen es viele auch gar nicht sehen. Und Heldenverehrung ergibt ja auch Sinn, sie folgt der Logik: Führer sag an, wir folgen dir! 

Die Belohnung, die ich für diese Gefolgschaft bekomme ist das Gefühl an einer größeren Sache (Volk, Nation, Vaterland, das sogenannte Eigene etc.) teil zu haben, und somit vielleicht auch den eigenen Unzulänglichkeitsgefühlen damit zu entkommen. Erich Fromm sprach in diesem Zusammenhang folgerichtig vom autoritären Charakter, der seine Vorurteile pflegt, sich unterwirft, rassistisch denkt ist und alles Fremde ablehnt. Hier gibt es eine Wechselwirkung zwischen dem autokratischem Führer und seinen "Followern", die am Ende aber nicht im ersehnten Frieden mündet, sondern zu rauschhaftem Aufruhr, Chaos und Krieg - im übertragenen sowie im realen Sinne führt. Und was darauf dann folgt ist bestenfalls eine Friedhofsruhe, sofern es den Autokraten dann überhaupt noch gibt. Anleihen aus der Geschichte gibt es ja zuhauf.

  Helga König
Helga König: "Die Haltung dem "Fremden" gegenüber ist von der Haltung sich selbst gegenüber nicht zu trennen. Solange ich einen Mitmenschen als grundsätzlich verschieden von mir erfahre, solange er für mich ein Fremder ist, bleibe ich auch mir selber ein Fremder“ ist eine Sentenz von Erich Fromm.  Was erhoffen Sie, bei Ihren Lesern durch diesen Tweet zu erreichen?

Raimund Schöll:  Also ich glaube ja nicht wirklich daran, im engeren Sinne etwas zu erreichen mit meinen Tweets. Die Zitate, Einlassungen oder Sentenzen auf Twitter sind ja aus meiner Warte nicht immer - jedenfalls nicht automatisch - als Aufforderung gedacht, sich einer Äußerung anzuschließen. Mich persönlich regen viele Tweets auf Twitter einfach zum Nachdenken an, und wenn dies passiert, retweete und like ich, und wenn meine Tweets das auch hin und wieder mal bewirken, freut mich das natürlich. 

Manchmal geht es mir auch nur darum, eine bestimmte Stimmung zum Ausdruck zu bringen. Dann ist es vielleicht der Dichter oder Erzähler in mir, der spricht. Das ist ja das Twitter-Spiel: Man äußert sich, und man bekommt eine Äußerung zurück, oder auch nicht. Oder man bekommt von anderen Äußerungen vorgetragen, man könnte auch sagen - serviert. Manche der Speisen schmecken einem, oder man genießt sie, manche weniger, und einige findet man vielleicht sogar ungenießbar inhaltlich oder ästhetisch oder beides zusammen. Ich setzte mich prinzipiell gern mit anderen Menschen ihren Meinungen, Sichtweisen und Haltungen auseinander. Das tue ich ja auch in meinem Beruf jeden Tag. 

Auf Twitter aber finde ich eine andere Ebene. Ich bin meiner professionellen Rolle entledigt und kann einfach mit anderen mitsinnieren. Das schätze ich, es macht Spaß und ist alles in allem ein Gewinn. Und man trifft dabei teilweise auf sehr interessante Leute, die man sonst nie kennengelernt hätte. Mit dem einen oder anderen habe ich inzwischen auch schon mal telefoniert, in einem Fall mich sogar getroffen. Ich fühle inzwischen auch so etwas wie Verbundenheit mit einigen Twitterern bzw. Followern. Und lustig ist ja: das wissen diese Menschen gar nicht. Das Zitat von Fromm passt insofern hier ganz gut, finde ich. . 

Helga König: "Rivalität ist ein schlimmes Gift für das Glück." schreibt François Lelord und sie haben den Satz getwittert. Weshalb leben so viele Menschen in Rivalität, wenn diese das Glück und mit ihr die innere Zufriedenheit vergiftet? Gibt es etwas, dass wünschenswerter als Glück erscheint?

 Raimund Schöll
Raimund Schöll: Inzwischen, das darf ich sagen, bin ich ja über 50 und habe viele dieser Rivalitätsspielchen am eigenen Leib miterlebt und ja – sicher auch hin und wieder mitbetrieben. Das steckt ja in uns allen drin, dass wir uns messen und vergleichen mit anderen und wir uns letztendlich auch an anderen abarbeiten. Davon ist keiner gefeit. Vor allem als Mann wirst du auf dieses Rivalitätsding regelrecht hindressiert: in der Schule, im Sport, im Beruf etc. Eine Kindergärtnerin hat mir neulich erzählt, dass heutzutage in ihrem Kindergarten die Kinder systematisch und öffentlich nach bestimmten Kriterien bewertet werden (müssen). Das hat mich traurig gemacht. Denn wozu führt das denn im Endeffekt? 

In meiner Studienzeit habe ich mich für andere Ethnien und Kulturen interessiert, wo Rivalität und Leistung keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielten. Es ginge also auch anders. Das lernt man, wenn man sich mit anderen Kulturen befasst. Ich für mich habe vor längerer Zeit schon dazu entschieden, so gut es geht nicht mehr zu rivalisieren und stattdessen lieber zu kooperieren. Und ich fahre gut damit. Seitdem ich einfach sage: Jedem sein Ding, geht es mir besser. So verstehe ich Lelord. Rivalität steht einem selbstbestimmten Leben prinzipiell – also auch dem Glück - entgegen.

  Helga König
Helga König: Was empfehlen Sie Ihren Mitmenschen, um mehr Freude im Leben zu erlangen?

Raimund Schöll:  Einen Sinn für die Feinheiten und Schönheiten des täglichen Lebens und viel Licht. 

Helga König: Wie wichtig ist nach ihrer Ansicht Achtsamkeit im Zusammenleben und wie essentiell Augenhöhe?

Raimund Schöll: Die Grundlage meines beruflichen Tuns - und auch eine sehr persönliche Einstellung: Die Putzfrau genauso respektvoll behandeln wie den Vorstand. Ohne eine so verstandene Augenhöhe könnte ich mich nicht im Spiegel ansehen – und das ist im doppelten Sinne gemeint. Achtsamkeit dagegen ist keine Eigenschaft im engeren Sinne, die man hat oder nicht hat, sondern eine Fertigkeit, eine wertvolle Haltung, die einem aber auch schnell wieder abhanden kommen kann, die man also jeden Tag aufs Neue einüben muss. Achtsamkeit bereichert das Leben, macht aber auch vorsichtiger. 

Helga König: Können wir in den sozialen Netzwerken etwas erlernen, das möglicherweise unsere Erkenntnis und damit unser inneres Wachstum fördert?

Raimund Schöll: Ich denke, ja! Twitter ist ein sozialer Raum, indem sich die Regeln und Spielregeln des Sozialen ständig reproduzieren und täglich neu ausdifferenzieren. Wer achtsam ist, lernt in den sozialen Netzwerken vor allem etwas über sich selbst. Denke ich.

Lieber Raimund Schöll, ich danke Ihnen herzlich für das aufschlussreiche Gespräch.

Ihre Helga König

Websites von Raimund Schöll
www.atmosphaeriker.de
http://paarberatung-gilching-münchen.de/de/home.php

Helga König im Gespräch mit Dr. Gertrud Müller, Soziologin, Verhaltenswissenschaftlerin, Psychoonkologin

Liebe Gertrud Müller, Sie sind Soziologin, Verhaltenswissenschaftlerin, Psychoonkologin, und wurden in Philosophie an der LMU München zum ...