Lieber Heinrich Tenz, Sie beschreiben sich auf einem Ihrer Twitter Profile wie folgt: Solo-Unternehmer - Berater - Coach - Management - Geschäftsprozesse - SAP, SD & MM - Social Media und immer offen für Neues und Interessantes. Dort auch erfährt man, dass Sie in Fürstenwalde an der Spree leben und Ihrer Homepage entnimmt man, dass Sie aufgrund Ihrer beruflichen Projekte im gesamten Bundesgebiet tätig sind. Auf Twitter zeigen Sie sich überaus menschenfreundlich, weil Sie dort viel für andere tun.
Helga König: Wie wichtig ist für Sie Mitmenschlichkeit?
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Heinrich Tenz
Foto: Detlev Schilke |
Heinrich Tenz: Zuerst vielen herzlichen Dank für Ihre Wertschätzung. Ich freue mich, Teil Ihrer Interviewserie zu sein.
Zur Frage:
Meine Mutter hat ein serbisches Hungerlager nach dem zweiten Weltkrieg nur deshalb überlebt, weil serbische Menschen ihr aus Mitleid etwas zu essen gaben. Da es serbische Menschen waren, die das Hungerlager errichtet und geführt haben, aber auch serbische Menschen, die Mitleid mit dem 14-jährigen Mädchen hatten, kann ich niemanden ohne genau hinzusehen pauschal ablehnen und verurteilen. Jeder Mensch jeder Nationalität kann menschlich sein, es liegt an jedem selbst. Für mich ist Mitmenschlichkeit etwas immens Wichtiges. Sie ist die Basis menschlichen Zusammenlebens, die Basis für jede Gesellschaft. Ohne Mitmenschlichkeit sind Menschen Monster.
Wer das nicht glaubt, braucht sich nur in Erinnerung zu rufen, was Menschen in Kriegen anstellen. Was passiert denn immer dann, wenn beispielsweise Menschen anderer Religion oder Gesinnung nicht als Menschen gesehen werden? Ich hoffe, gerade wir hier in Deutschland können uns noch daran erinnern, wohin das führen kann.
Mitmenschlichkeit ist in jedem Menschen angelegt. Die meisten Menschen wissen instinktiv, dass ein Gegeneinander alle verlieren lässt, ein Miteinander alle gewinnen. Ohne Mitmenschlichkeit wäre das Leben sinnlos und nicht lebenswert. Ich lebe gern; deshalb ist für mich Mitmenschlichkeit einer der höchsten Werte.
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Helga König |
Helga König: Welchen Stellenwert hat in Ihrem Leben Fairness?
Heinrich Tenz: Ich lege Wert darauf, fair behandelt zu werden. Deshalb versuche ich, meinerseits alle Menschen, mit denen ich zu tun habe, anständig und gerecht zu behandeln. Ich weiß, dass in unserer westlichen Welt das Wohl der Wirtschaft oft über das Wohl der Menschen gestellt wird. Dabei werden die Menschen gerne gegeneinander ausgespielt. Die Konkurrenz wird geschürt und Sündenböcke werden gesucht. Viele empfinden das als unfair und wenden sich vom politischen Geschehen ab, gehen nicht mehr wählen oder fallen auf populistische Manipulierer rein.
Mein Wunsch wäre eine Welt, in der jeder seinen Mitmenschen anständig und wertschätzend begegnet, in der die Menschen verstehen, dass sich Menschen nur miteinander entwickeln können. Auch unsere Gesellschaft kann sich nur durch ein faires Miteinander entwickeln. Die Geschichte hat gezeigt, dass, wenn Ungerechtigkeit und Unterdrückung ein sinnvolles (Zusammen-)Leben unmöglich machen, blutige Auseinandersetzungen und Revolutionen aufkommen. Weiterhin haben Konkurrenzkampf zwischen den Ländern und Geringschätzung der Natur und Umwelt unsere Lebensgrundlagen an der Rand der Vernichtung manövriert.
Die Aussage, dass der Mensch es verursacht hat, dass sich das Klima ändert, kann möglicherweise nicht bis ins letzte Detail wissenschaftlich untermauert werden. Fakt ist, dass Arten aussterben, unsere Lebensmittel auf biologisch toten Äckern und künstlich in Fabriken produziert werden, und dass das Wetter immer extremer wird. Dabei hat sich herausgestellt, dass der Mensch der Natur hoffnungslos unterlegen ist. Auch wenn er glaubt, alles im Griff zu haben, kann er weder Hurricans, Tornados, Tsunamis oder Erdbeben verhindern. Wir sollten also nicht nur mit Menschen fair und angemessen umgehen, sondern auch mit Tieren und unserer natürlichen Umgebung.
Helga König: Sie haben am 3.März 2018 einen Link von Greenpeace gemeinsam mit einem Kommentar von Ihnen gepostet. Der Kommentar lautet: "In einer Welt ohne Regeln siegt der Starke immer über den Schwachen." Weshalb haben Sie diesen Kommentar formuliert?
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Heinrich Tenz
Foto: Detlev Schilke |
Heiner Tenz: Das ist die Überschrift des Artikels. Ich habe sie unverändert übernommen, weil sie mir angemessen provokant erschien. Diese Aussage gilt aus meiner Sicht jedoch nur eingeschränkt; auch in dem Kontext, aus dem sie stammt. Es geht in dem Artikel um den Protektionismus von Donald Trump, um seinen Traum von America first. Es geht darum, dass Trump die USA für so stark hält, dass er sich nicht mehr an bisher geltende internationale Regeln halten muss. Das kann in einer global vernetzten und voneinander abhängigen Welt schwerwiegende Folgen haben.
Es muss jedoch nicht so sein, dass der Starke über den Schwachen siegt. Ich halte es durchaus für möglich, das sich der Starke auch selbst besiegen kann. Beispielsweise haben sich die USA in Vietnam selbst besiegt, weil sie glaubten, überlegene Waffen allein würden den Sieg garantieren. Außerdem gilt diese Aussage nur im Verhältnis ein Starker gegen einen Schwachen. Sobald es mehrere Schwache sind, gegen die der Starke gewinnen will, und diese Schwachen begreifen, dass sie gemeinsam gegen den Starken bestehen können, ändern sich die Verhältnisse, und letztlich dann auch wieder die Regeln.
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Helga König |
Helga König: Sie erwähnen auf Ihrer Homepage, dass Sie sich für Persönlichkeitsbildung interessieren. Worin sehen Sie den Wert einer ausgereiften Persönlichkeit im Hinblick auf ein positives Miteinander?
Heinrich Tenz: Eine ausgereifte Persönlichkeit ist wenig anfällig für Manipulationen aller Art. Beispielsweise Werbung. Als ausgereifte Persönlichkeit brauche ich mich nicht mehr durch Accessoires aufwerten, etwa ein schnelles Markenauto oder einen die Frauen betörenden Duft. Ich brauche keine Gegenstände mehr und auch keinen materiellen Erfolg, um zu spüren, dass ich ein vollständiger und wertvoller Mensch bin.
Wer wirklich gereift ist, braucht sich auch nicht mehr über andere zu stellen; er kann auf Augenhöhe jedem Menschen wertschätzend gegenübertreten. Ich sehe wirklich viele Vorteile.
Gereifte Menschen hören einander besser zu, würdigen sich nicht gegenseitig herab, oder intrigieren auch nicht, um einen Konkurrenzkampf zu gewinnen. Wer in sich selber ruht, braucht sich nicht besser zu fühlen als seine Mitmenschen. Er wird auch weniger Angst haben und braucht daher auch keine Feindbilder mehr.
Eine ausgereifte Persönlichkeit weiß, wie wichtig es ist, anderen Menschen Wertschätzung entgegenzubringen. Sie kennt die Vorteile gewaltfreier Kommunikation und wird sehr stark nach Gemeinsamkeiten und Kooperationsmöglichkeiten suchen. Ein ausgereifter Mensch definiert sich aus seiner Menschlichkeit und sieht seine Mitmenschen auch aus diesem Gesichtspunkt.
Vor allem in der Politik brauchen wir viel mehr ausgereifte Persönlichkeiten, weltweit.
Helga König: Sie haben eine beträchtliche Anzahl von Followers. Was können diese durch Sie lernen?
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Heinrich Tenz
Foto: Detlev Schilke |
Heinrich Tenz: Normalerweise bin ich schnell dabei, mein Tun zu hinterfragen. Jetzt merke ich jedoch, dass ich meine Twitter-Aktivitäten in Hinblick darauf, was meine Follower von mir lernen könnten, noch nie betrachtet habe. Es gibt keinen Plan. Ich habe unwahrscheinlich viel für mich durch meine Twitter-Aktivitäten gelernt.
Mir wird manchmal gesagt, dass ich mich gut als Lehrer eignen würde. Doch das wollte ich nie sein. Insofern sollen meine Twitter-Aktivitäten höchstens ein Beispiel sein, wenn sie denn dafür taugen. Twitter war und ist für mich eine Art emanzipatorisches Spielzeug. Es unterstützt meine Persönlichkeitsbildung. Klingt vielleicht komisch, aber ich habe mit Twitter gelernt, mich viel mehr zu trauen als vorher. Ich habe dort gelernt, ohne Scheu einfach auf fremde Menschen zuzugehen. Da fällt mir ein, dass für mich immer Menschen hinter den Accounts stehen. Mir kam nie der Gedanke, es mit irgendetwas Automatischem, etwas Unbelebten zu tun zu haben.
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Helga König |
Helga König: Als Hobbyprojekt betreiben Sie das "Deutsch Tweetor". Dort geben Sie Folge-Empfehlungen, genannt Tagesempfehlungen und schreiben, dass vor allem Anfänger hier gute Hinweise erhalten, wem sie folgen können. Nach welchen Kriterien wählen Sie die Folge-Empfehlungen aus?
Heinrich Tenz: "DeutschTweetor" habe ich bis auf ein paar Automatiken stillgelegt, weil sich einerseits meine Prioritäten verschoben haben, und daher andererseits mir zu wenig Zeit für dieses Projekt bleibt. Die Folge-Empfehlungen habe ich bereits vor einiger Zeit eingestellt. Diese Empfehlungen sind natürlich sehr subjektiv gewesen. Es gab jedoch ein paar Kriterien, um in die Tagesempfehlungen aufgenommen zu werden.
Ein Kandidat für die Empfehlungen sollte mir sympathisch sein. Wer mir sympathisch erscheint, ist möglicherweise auch für andere interessant, dachte ich. Es sollte also ein Bild, zumindest ein Logo oder so etwas vorhanden sein. Außerdem sollte die Bio ausgefüllt und der Account nicht privat (gesperrt/eingeschränkte Sichtbarkeit) sein.
Der Twitterer sollte interaktiv agieren, also auch mal retweeten, andere empfehlen, neue Follower begrüßen oder sich mit anderen Twitterern unterhalten.
Ich habe nur Twitterer gelistet, die mir folgten.
Gegenseitiges Folgen war Pflicht, damit auch die Chance bestand, dass neue Twitterer gute Follower bekamen.
Der Twitterer sollte interessant und informativ twittern (politisch und religiös möglichst neutral). Das alles war allerdings schwer zu beurteilen. Auf jeden Fall kamen Twitterer, die nur Werbetweets von sich gaben, nicht infrage.
Insgesamt waren etwa 800 Twittterer auf meiner Liste, und es dauert über drei Wochen, bis die Empfehlungsrunde einmal durch war. Der Aufwand, diese Liste zu pflegen war mir irgendwann zu hoch. Pflegen bedeutete, nach jedem Turnus die inaktiven und die geschlossenen Accounts zu entfernen und neue aufzunehmen. Das Erstellen der Tweets hatte ich allerdings gut automatisiert, und zwar in einer Weise, dass sich bei jedem neuen Empfehlungsturnus die Reihenfolge geändert hat.
Helga König: Was möchten Sie unseren Lesern im Hinblick auf Algorithmen mitteilen?
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Heinrich Tenz
Foto: Detlev Schilke |
Heinrich Tenz: Wikipedia schreibt, dass ein Algorithmus eine "eindeutige Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems oder einer Klasse von Problemen" ist. Verwendet werden Algorithmen vor allem bei der Programmierung. Jedes Computerprogramm enthält eine Reihe von festgelegten Programmschritten, um eine oder viele Aufgaben zu lösen. Wer sich im Internet bewegt, hat es immer mit Programmen zu tun. Facebook ist ein Programm ebenso wie Twitter oder XING. Diese Programme ermöglichen es den Anwendern (beinahe direkt), miteinander zu kommunizieren. Gleichzeitig sorgen Algorithmen dafür, dass den Anwendern möglichst die Inhalte angezeigt werden, die sie interessieren könnten, und - wichtig - die für Werbeeinnahmen sorgen. Das ist keine wirklich intelligente Programmierung, sondern diese Algorithmen laufen immer in der gleichen Weise ab und dienen einem Zweck.
Auch Künstliche Intelligenz besteht aus Programmen, also aus Algorithmen. Diese Algorithmen sind von Menschen gemacht, die Maschinen, die Computer sind nicht intelligenter als Menschen. Auch wenn es bereits Algorithmen gibt, über die Computer lernen können, sind sie nicht intelligenter als Menschen. Sie sind schneller und können wesentlich größere Mengen an Informationen verarbeiten und dadurch schneller Schlüsse ableiten.
Jeder sollte sich bewusst machen, dass Algorithmen immer mehr unser Leben beeinflussen. Beispielsweise werden inzwischen Algorithmen bei der Bewerberauswahl eingesetzt oder stellen wie ein Arzt Diagnosen.
Angeblich sind sie bei der Diagnose treffsicherer als Ärzte. Diese Algorithmen hangeln sich an Informationen entlang und setzen diese Informationen miteinander in Beziehung. Dadurch können sie Zusammenhänge erkennen und Schlüsse ziehen, allerdings jedoch niemals die Qualität weder der Informationen noch der Schlussfolgerungen einschätzen. Daher finde ich, wie übrigens auch viele Personaler in Deutschland, dass die Beurteilung eines Bewerbers nicht allein durch Computer erfolgen sollte.
Jeder Mensch sollte sich auf seine menschlichen Qualitäten besinnen. Algorithmen sind Gleichmacher. Unsere Menschlichkeit macht den Unterschied.
In den sozialen Medien sollte sich jeder bewusst machen, dass es von Menschen eingerichtete Algorithmen sind, welche die Informationen auswählen, die ihm angezeigt werden. Auch wenn Social Media außer Zeit nichts kosten, verdienen die Unternehmen damit Milliarden. Um diese Gewinne sicherzustellen, müssen die Algorithmen geeignet sein, den Geldgebern (überwiegend Werbekunden) zu garantieren, dass sie für ihr Geld auch einen entsprechenden Gegenwert bekommen.
Hinter den Algorithmen stehen also Interessen. Dessen sind sich viele Social Media Nutzer leider nicht bewusst.
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Helga König |
Helga König: Sie schreiben, dass Sie sich für digitale Transformation interessieren. Weshalb wäre es sinnstiftend, dass sich möglichst alle Menschen mit diesem Thema befassen?
Heinrich Tenz: Die digitale Transformation ist kein Hype, sie findet statt und ist schon längst Teil unseres Lebens. Es wird bereits sehr ausführlich über die Auswirkungen diskutiert. Jeder sollte wissen, dass wir momentan nur über die zukünftige Entwicklung spekulieren können. Es gibt Wahrscheinlichkeiten, die jetzt schon absehbar sind. Etwa der Verlust von Millionen Arbeitsplätzen, bei denen Maschine die Arbeit einfacher und schneller verrichten können. Es gibt jedoch so viele Faktoren, die zu berücksichtigen wären, so dass alle Voraussagen einen großen Anteil an Spekulation in sich tragen.
Ich kann jedem nur empfehlen, sich damit zu beschäftigen, was momentan alles diskutiert wird. Wer informiert ist, kann sich besser auf die kommenden Umstellungen einstellen. Es geht auf keinen Fall darum, zu bedauern, was alles durch die digitale Transformation kaputtgehen wird. Das ist sinnlos, wir wissen es noch nicht. Es geht daher vielmehr darum, Wege für sich selbst zu finden, um mit den Veränderungen besser umgehen zu können.
Die digitale Transformation wird sich ebenso wenig aufhalten lassen, wie die industrielle Revolution vor 200 Jahren. Daher ist es wichtig, sich seine Menschlichkeit zu bewahren und sich möglichst gut auf die Veränderungen einzustellen. Die Menschlichkeit ist wichtig, um sich von den Maschinen zu unterscheiden. Denn alles, was Maschinen erledigen können, werden Maschinen erledigen. Menschen werden für all das gebraucht, wofür sich Maschinen nicht eignen.
Das gilt es herauszufinden.
Es gibt einen weiteren Aspekt, der mehr politisch ist. Der Einsatz von Maschinen beziehungsweise Robotern muss geregelt werden. Es gilt sehr genau darauf zu achten, wo Maschinen zwar schneller und effektiver sind, jedoch aufgrund mangelnder Menschlichkeit fatale Entscheidungen treffen könnten.
Mir fällt beispielsweise ein, dass darüber geredet wird, Computer in der Rechtsprechung einzusetzen. Sie können wesentlich schneller alle Gesetzbücher durchforsten und somit zu einem auf den ersten Blick klareren Urteil kommen. Andererseits frage ich mich, ob ein Computer jeweils dazu in der Lage sein kann, alle Umstände korrekt zu werten, die einen Menschen zu einer Tat gedrängt haben, also so etwas wie menschliches Ermessen haben können.
Außerdem steht zu befürchten, dass, weil Computer keine Zweifel haben können, der Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten" dann nicht mehr angewendet werden kann.
Ein weiterer ganz wichtiger Punkt bei der digitalen Transformation ist die Entwicklung neuartiger Waffentechnologien. Beispielsweise kleine Flugroboter, die Menschen gezielt auffinden und töten können. Dafür muss es eine Überwachung geben. Denn es ist kaum auszudenken, was passiert, wenn eine solche Technologie in die falschen Hände gerät.
Helga König: Welchen Sinn sehen Sie in den sozialen Medien und welche Gefahren gehen von ihnen aus?
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Heinrich Tenz
Foto: Detlev Schilke |
Heinrich Tenz: Die Sozialen Medien haben uns die Möglichkeit gebracht, mit Menschen fernab von unserem Wohn- oder Aufenthaltsort in Kontakt zu kommen, mit ihnen zu kommunizieren, zu diskutieren und sogar Freundschaft zu schließen. Ich genieße das, mir ist das sehr wichtig geworden. Es ist schön, die Meinungen anderer Menschen zu erfahren. Das bereichert meine Welt. Inzwischen kann ich vieles verstehen, was mir vorher fremd war. Das setzt natürlich Offenheit gegenüber meinen "Mitbewohnern" in den sozialen Netzwerken voraus.
Das ist auch genau der Punkt, wo viele Gefahren lauern. Menschen, die ihre eigene Meinung für die einzig richtige halten, neigen im World Wide Web häufiger dazu, andere "niederzuschreiben", spätestens wenn ihnen das Verständnis und die Argumente ausgehen. Eine weitere Gefahr geht von den Algorithmen aus, welche die Betreiber sozialer Netzwerke einsetzen, um auf der einen Seite ihre Anwender bei der Stange zu halten, und andererseits ihre Finanziers, die zahlenden Werbekunden, von der Wirksamkeit ihres Engagements zu überzeugen.
Die Algorithmen sorgen auch dafür, das "Filterblasen" entstehen oder verstärkt werden. Jeder Anwender bekommt nur die Nachrichten zu sehen, die das Programm gemäß dem fest verdrahteten Algorithmus für ihn auswählt. Alles andere ist schwer zu finden. Damit bestärken und unterfüttern die sozialen Netzwerke die bestehenden Meinungen. Gleichzeitig können Anwender, die sich weniger selbstreflektiert und hinterfragend durch die virtuellen Gefilde bewegen, in Richtungen abdriften, die der Gesellschaft schaden. Dabei schaden sie sich auch selbst, ohne es zu bemerken. Ich meine damit vor allem die hasserfüllten Poster.
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Helga König |
Helga König: Hat sich Ihre Sicht im Hinblick auf Ihre Mitmenschen im Laufe der Jahre durch die sozialen Netzwerke entscheidend geändert?
Heinrich Tenz: Ich habe eine größere Vielfalt bei den Menschen feststellen dürfen. Dabei habe ich viele neue Facetten erfahren können. Mich hat das in meiner Sicht bestärkt, dass meine Mitmenschen zwar sehr unterschiedlich sind, ich jedoch allen mit Respekt und Wertschätzung gegenübertreten will. Es ist mir noch wichtiger geworden, keine pauschalen Urteile zu fällen, überhaupt mir ein Urteil anzumaßen, bevor ich nicht genau gehört habe, was mein Gegenüber antreibt. Ein für mich wichtiger Punkt ist, dass ich mehr und mehr versuche, mich von der Einschätzung "gut und böse" oder "richtig und falsch" wegzubewegen.
Ein weites Feld, zugegeben. Es geht mir darum, immer weniger zu urteilen, Menschen in Schubladen zu stecken.
Und es geht mir darum, auch meinen eigenen Standpunkt immer wieder infrage zu stellen. Nur dann habe ich die Chance, meine Mitmenschen wirklich zu verstehen.
Meine Sicht auf meine Mitmenschen hat sich erweitert, aber ich glaube nicht, dass sie sich entscheidend geändert hat. Durch diese Hasspostings und Shitstorms scheint es so, als wären viele Menschen frustrierter geworden. Ich sehe das jedoch nicht so. Das war alles bereits vorher gegeben. Es wurde nur durch die Öffentlichkeit der soziale Netzwerken sichtbarer als zuvor.
Lieber Heinrich Tenz, ich danke Ihnen herzlich für das aufschlussreiche Interview
Ihre Helga König