Helga König im Gespräch mit Raimund Schöll, Soziologe, Organisations- und Paarberater, Coach und Autor von bemerkenswerten Büchern.

Lieber Raimund Schöll, Sie sind Soziologe, Organisations- und Paarberater, Coach und Autor von bemerkenswerten Büchern. Die Leser von "Buch, Kultur und Lifestyle" kennen Sie durch Ihr Werk "Alltagsfluchten", das ich rezensiert habe und zu dem wir beide im Onlinemagazin zudem ein Interview realisiert haben. 

Helga König: Am 1.3. 2018 haben Sie eine Sentenz von Max Weber getwittert, die da lautet "Die Menschen sehnen sich nach Authentizität, nach Glaubwürdigkeit und nach sachlicher Leidenschaft."  Haben Sie den Eindruck, dass Webers Feststellung heute mehr denn je gilt und wenn ja, weshalb?

 Raimund Schöll
Raimund Schöll: Danke für die Einladung zum Interview. Und gleich eine erste interessante Frage, die Sie da stellen. Max Weber hat dieses Statement wohl in erster Linie auf Politiker bezogen. Ich bin zufällig darauf gestoßen. In seinem Vortrag "Politik als Beruf" sagt er, Politiker sollten vor allem über drei Qualitäten verfügen: sachliche Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und distanziertes Augenmaß. Angesichts der vielbeschworenen Politikverdrossenheit trifft Webers Sehnsuchtshypothese in meinen Ohren auch heute noch einen Nerv. Allerdings, scheint mir, kann man es sich mit dieser Sehnsucht auch einfach machen. 

1. Wenn sie impliziert, dass es Politiker solcher Qualität selten oder kaum gibt, was ich bezweifle und 2. dass man Opfer dieses vermeintlichen Mangels an aufrichtigen Vorbildern ist. 

Vielleicht überstrapazieren wir ja unsere Erwartungen an Politiker und unterschätzen die Bedeutung unsere eigenen Beiträge in der Gesellschaft. Auch der Politiker kocht ja sprichwörtlich nur mit Wasser. Webers Satz kann man insofern auch als Ansporn verstehen, als Ansporn für sich selbst, für uns. 

 Helga König
Helga König: Was ist Ihrer Meinung nach ein sinnstiftendes Miteinander?

Raimund Schöll:  Die Frage nach dem Sinn ist ja grundsätzlich immer eine interessante, andererseits aber auch unentscheidbare Frage, die nur jeder für sich selbst beantworten kann. Wozu und wofür leben wir? Wer könnte darauf schon eine allgemeingültige Antwort geben? 

Aber um an Ihre Frage anzuknüpfen - Ich würde es mal so herum probieren: Der Mensch ist ein soziales Wesen, somit wäre die Frage nach einem sinnstiftenden Miteinander schnell beantwortet: Wir leben zusammen, weil wir aufeinander angewiesen sind. Wir brauchen die Resonanz des anderen, andernfalls werden wir sonderbar, wenn nicht verrückt. Oder wie das mal der US-amerikanische Soziologe Amitai Etzioni gesagt hat: "The Me needs the We to be." 

Der Sinn sind also wir selbst. Wenn Menschen nun noch ein bewussten und gemeinsamen Sinn miteinander stiften sollten, und darauf zielt ja Ihre Frage ab, würde ich sagen, ist ein sinnstiftendes Miteinander dann, wenn man sich hinter sinnvollen Anliegen bzw. Projekten versammelt, die über das reine Ego-Interesse hinaus gehen. Ein gemeinsames Tun also, was der Welt und anderen und damit auch mir selbst irgendwie weiterhilft. Das kann ein gemeinsames Engagement bei der Freiwilligen Feuerwehr sein genauso sowie das Führen eines Dritte-Welt-Ladens oder die Zusammenarbeit in einem Unternehmen. Für ein langfristig gelingendes Miteinander - in welcher Form auch immer - ist Sinnstiftung – das sagt auch meine Erfahrung als Berater – schlechthin unumgänglich. 

Menschen brauchen eine Sinnbegründung. Allerdings muss auch erlaubt sein, den Sinn einer Sache hin und wieder in Frage zu stellen, um gegebenenfalls einen neuen zu finden. Sinngebung ist meiner Erfahrung nach ein sozialer Prozess, kein Zustand. In meiner Beratungspraxis hatte ich in letzter Zeit viele interessante Fälle, Anliegen, Projekte in Unternehmen bei denen sich die Sinnfrage direkt oder indirekt gestellt hat. 

Helga König: Für wie wichtig halten Sie Fairness in Organisationen und Paarbeziehungen?

 Raimund Schöll
Raimund Schöll: Für sehr wichtig. Fairness ist in allen sozialen Beziehungen ein zentrales Thema. Eine faire Beziehung beruht darauf, dass einer den anderen respektvoll und anständig behandelt und dies auf Gegenseitigkeit beruht. Ein Vertrag quasi und die stillschweigende Übereinkunft darüber, dass wenn einer unfair gehandelt hat, eine Art Ausgleich erfolgt, ja erfolgen muss. Will sagen: Situativ unfaire Akte lassen sich im Alltag kaum vermeiden, aber die Folgen einer erkannten Unfairness können und müssen ausgeglichen, zumindest abgemildert werden. Wenn ich auf dem Fußballfeld faul gespielt habe, kann ich das zwar nicht mehr rückgängig machen, aber ich kann mich entschuldigen oder dem anderen aufhelfen, wenn er schon wegen mir auf dem Boden liegt. 

Ein Chef, der in der Besprechung ungerechtfertigt die Contenance verliert, kann dies nicht mehr rückgängig machen, aber er kann sich entschuldigen und noch auf andere Arten dem Mitarbeiter zeigen, dass ihm die Sache leid tut. Erfolgen solche Ausgleichshandlungen nicht, kommt es langfristig zu schweren Beziehungskonflikten, die im Extremfall zerstörerisch wirken. Unfairness kommt natürlich auch in Paarbeziehungen vor. Der, der immer nur gibt und der andere der andere immer nur nimmt. Der, der sich fortwährend in den Vordergrund schiebt und der andere, der ein Mauerblümchendasein fristet. Der, der immer am Schalthebel sitzt und bestimmt, der andere, der immer nur ohnmächtig folgen muss etc.. Wenn Paare aus diesem Teufelskreislauf, der am Anfang oft gar nicht als solcher wahrgenommen wird, keinen Ausstieg finden, wird es brisant. Es gibt es übrigens ein interessante Buch eines Kollegen, das ich in diesem Zusammenhang nur wärmstens empfehlen kann. Es heißt "Tödliche Konflikte". Darin werden die Entstehungsbedingungen von Kriegen und anderen Konflikten aus systemtheoretischer Perspektive analysiert. Ergebnis ist, dass es bei vielen Auseinandersetzungen überraschenderweise eben nicht um kühle und rationale Interessensfragen geht, sondern sehr oft um scheinbar so antiquierte Werte wie Stolz, Ehre und Status.

  Helga König
Helga König: Sie haben dieser Tage einen Gedanken von Cees Nooteboom getwittert. Er lautet: "Siegen bedeutet nichts, mein Junge. Siegen hinterlässt keine Spuren, ist nur Befriedigung. Verlieren ist Leben. [...] Verlieren ist Leben, Siegen ist Tod, denn danach gibt es nichts mehr." Was ging Ihnen spontan durch den Kopf als Sie den Satz gelesen haben und glauben Sie, dass dieser Satz Menschen mehr gibt als nur Trost?

Raimund Schöll: Dieser Satz hat mich berührt. Ich finde, dass das Siegen in unseren Sphären überbewertet ist. Es scheint mir immer nur der zu zählen, der sich durchgesetzt, der etwas Herzeigbares erreicht hat. Der wird gefeiert und verehrt. Der Verlierer hingegen wird bedauert und stehen gelassen, man wendet sich peinlich berührt von ihm ab, unter Umständen wird noch Häme über ihn ausgeschüttet. Ich gebe zu: ich habe gewisse Sympathien fürs Verlieren.

Ich persönlich habe aus meinen Niederlagen viel gelernt. Menschliche Reife erlangt man vielleicht sogar eher durch Niederlagen als durch ständige Siege. Und: Anständig scheitern will auch gelernt sein. Ob dieser Gedanke für den einen oder anderen mehr als nur ein Trost sein könnte, vermag ich nicht zu sagen.

Helga König: Sie twitterten auch: "Merke: Diktatoren, Autokraten - also unreife Persönlichkeiten brauchen Kriege. Wenn du solche wählst, kriegst du Krieg." Weshalb begreifen selbst halbwegs gebildete Menschen diesen Satz nicht und treffen die falsche Wahl?

 Raimund Schöll
Raimund Schöll: Dieser Tweet entstand wohl deswegen, weil ich ziemlich genervt bin von dem aktuell wieder auferstehenden Aberglauben, dass uns vermeintlich starke Figuren als Heilsbringer aus der Krise und unseren Nöten helfen. Die Auftritte diverser Despoten im Ausland, aber auch von pseudoheldisch und autoritär auftretenden Politikfiguren im Inland sind für mich an Lächerlichkeit kaum zu überbieten. Kabarettisten, Schriftsteller und Komiker - ich denke da zB an Charlie Chaplin – bringen dies ja immer wieder und Gott sei Dank und trefflich aufs Tableau. Doch gibt es scheinbar nicht wenige Abnehmer dieses Habitus’. Und genau dies bereitet Sorge. Denn hinter einem präpotenten narzisstischen Selbstausdruck verbergen sich oft erhebliche Persönlichkeitsdefizite - sprich menschliche Unreife. "Das arme Würstchen", das sich hinter dem Größenselbst eines autokratischen Führers verbirgt, sehen viele vielleicht tatsächlich nicht, und vielleicht wollen es viele auch gar nicht sehen. Und Heldenverehrung ergibt ja auch Sinn, sie folgt der Logik: Führer sag an, wir folgen dir! 

Die Belohnung, die ich für diese Gefolgschaft bekomme ist das Gefühl an einer größeren Sache (Volk, Nation, Vaterland, das sogenannte Eigene etc.) teil zu haben, und somit vielleicht auch den eigenen Unzulänglichkeitsgefühlen damit zu entkommen. Erich Fromm sprach in diesem Zusammenhang folgerichtig vom autoritären Charakter, der seine Vorurteile pflegt, sich unterwirft, rassistisch denkt ist und alles Fremde ablehnt. Hier gibt es eine Wechselwirkung zwischen dem autokratischem Führer und seinen "Followern", die am Ende aber nicht im ersehnten Frieden mündet, sondern zu rauschhaftem Aufruhr, Chaos und Krieg - im übertragenen sowie im realen Sinne führt. Und was darauf dann folgt ist bestenfalls eine Friedhofsruhe, sofern es den Autokraten dann überhaupt noch gibt. Anleihen aus der Geschichte gibt es ja zuhauf.

  Helga König
Helga König: "Die Haltung dem "Fremden" gegenüber ist von der Haltung sich selbst gegenüber nicht zu trennen. Solange ich einen Mitmenschen als grundsätzlich verschieden von mir erfahre, solange er für mich ein Fremder ist, bleibe ich auch mir selber ein Fremder“ ist eine Sentenz von Erich Fromm.  Was erhoffen Sie, bei Ihren Lesern durch diesen Tweet zu erreichen?

Raimund Schöll:  Also ich glaube ja nicht wirklich daran, im engeren Sinne etwas zu erreichen mit meinen Tweets. Die Zitate, Einlassungen oder Sentenzen auf Twitter sind ja aus meiner Warte nicht immer - jedenfalls nicht automatisch - als Aufforderung gedacht, sich einer Äußerung anzuschließen. Mich persönlich regen viele Tweets auf Twitter einfach zum Nachdenken an, und wenn dies passiert, retweete und like ich, und wenn meine Tweets das auch hin und wieder mal bewirken, freut mich das natürlich. 

Manchmal geht es mir auch nur darum, eine bestimmte Stimmung zum Ausdruck zu bringen. Dann ist es vielleicht der Dichter oder Erzähler in mir, der spricht. Das ist ja das Twitter-Spiel: Man äußert sich, und man bekommt eine Äußerung zurück, oder auch nicht. Oder man bekommt von anderen Äußerungen vorgetragen, man könnte auch sagen - serviert. Manche der Speisen schmecken einem, oder man genießt sie, manche weniger, und einige findet man vielleicht sogar ungenießbar inhaltlich oder ästhetisch oder beides zusammen. Ich setzte mich prinzipiell gern mit anderen Menschen ihren Meinungen, Sichtweisen und Haltungen auseinander. Das tue ich ja auch in meinem Beruf jeden Tag. 

Auf Twitter aber finde ich eine andere Ebene. Ich bin meiner professionellen Rolle entledigt und kann einfach mit anderen mitsinnieren. Das schätze ich, es macht Spaß und ist alles in allem ein Gewinn. Und man trifft dabei teilweise auf sehr interessante Leute, die man sonst nie kennengelernt hätte. Mit dem einen oder anderen habe ich inzwischen auch schon mal telefoniert, in einem Fall mich sogar getroffen. Ich fühle inzwischen auch so etwas wie Verbundenheit mit einigen Twitterern bzw. Followern. Und lustig ist ja: das wissen diese Menschen gar nicht. Das Zitat von Fromm passt insofern hier ganz gut, finde ich. . 

Helga König: "Rivalität ist ein schlimmes Gift für das Glück." schreibt François Lelord und sie haben den Satz getwittert. Weshalb leben so viele Menschen in Rivalität, wenn diese das Glück und mit ihr die innere Zufriedenheit vergiftet? Gibt es etwas, dass wünschenswerter als Glück erscheint?

 Raimund Schöll
Raimund Schöll: Inzwischen, das darf ich sagen, bin ich ja über 50 und habe viele dieser Rivalitätsspielchen am eigenen Leib miterlebt und ja – sicher auch hin und wieder mitbetrieben. Das steckt ja in uns allen drin, dass wir uns messen und vergleichen mit anderen und wir uns letztendlich auch an anderen abarbeiten. Davon ist keiner gefeit. Vor allem als Mann wirst du auf dieses Rivalitätsding regelrecht hindressiert: in der Schule, im Sport, im Beruf etc. Eine Kindergärtnerin hat mir neulich erzählt, dass heutzutage in ihrem Kindergarten die Kinder systematisch und öffentlich nach bestimmten Kriterien bewertet werden (müssen). Das hat mich traurig gemacht. Denn wozu führt das denn im Endeffekt? 

In meiner Studienzeit habe ich mich für andere Ethnien und Kulturen interessiert, wo Rivalität und Leistung keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielten. Es ginge also auch anders. Das lernt man, wenn man sich mit anderen Kulturen befasst. Ich für mich habe vor längerer Zeit schon dazu entschieden, so gut es geht nicht mehr zu rivalisieren und stattdessen lieber zu kooperieren. Und ich fahre gut damit. Seitdem ich einfach sage: Jedem sein Ding, geht es mir besser. So verstehe ich Lelord. Rivalität steht einem selbstbestimmten Leben prinzipiell – also auch dem Glück - entgegen.

  Helga König
Helga König: Was empfehlen Sie Ihren Mitmenschen, um mehr Freude im Leben zu erlangen?

Raimund Schöll:  Einen Sinn für die Feinheiten und Schönheiten des täglichen Lebens und viel Licht. 

Helga König: Wie wichtig ist nach ihrer Ansicht Achtsamkeit im Zusammenleben und wie essentiell Augenhöhe?

Raimund Schöll: Die Grundlage meines beruflichen Tuns - und auch eine sehr persönliche Einstellung: Die Putzfrau genauso respektvoll behandeln wie den Vorstand. Ohne eine so verstandene Augenhöhe könnte ich mich nicht im Spiegel ansehen – und das ist im doppelten Sinne gemeint. Achtsamkeit dagegen ist keine Eigenschaft im engeren Sinne, die man hat oder nicht hat, sondern eine Fertigkeit, eine wertvolle Haltung, die einem aber auch schnell wieder abhanden kommen kann, die man also jeden Tag aufs Neue einüben muss. Achtsamkeit bereichert das Leben, macht aber auch vorsichtiger. 

Helga König: Können wir in den sozialen Netzwerken etwas erlernen, das möglicherweise unsere Erkenntnis und damit unser inneres Wachstum fördert?

Raimund Schöll: Ich denke, ja! Twitter ist ein sozialer Raum, indem sich die Regeln und Spielregeln des Sozialen ständig reproduzieren und täglich neu ausdifferenzieren. Wer achtsam ist, lernt in den sozialen Netzwerken vor allem etwas über sich selbst. Denke ich.

Lieber Raimund Schöll, ich danke Ihnen herzlich für das aufschlussreiche Gespräch.

Ihre Helga König

Websites von Raimund Schöll
www.atmosphaeriker.de
http://paarberatung-gilching-münchen.de/de/home.php

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