Helga König im Gespräch mit Andrea Wirsching, Winzerin des Jahres 2018 und Geschäftsführerin des renommierten Weingutes Hans Wirsching in Iphofen/Franken

Andrea Wirsching ist Historikerin und führt jetzt in der 15. Generation das renommierte Weingut Hans Wirsching in Iphofen/Franken. 2018 wurde diese Power-Frau vom Genussmagazin "selection"zur "Winzerin des Jahres" gekürt.  

Liebe Andrea Wirsching, ich freue mich, dass Sie an dem Ethik-Langzeitprojekt "Interviews- Begegnungen mit Menschenfreunden im Netz" teilnehmen. Dazu folgende Fragen an Sie: 

Helga König: Welchen Stellenwert hat für Sie Mitmenschlichkeit? 

 Andrea Wirsching
Foto: Ina Brosch
Andrea Wirsching: Mitmenschlichkeit ist für mich das Einzige, was zählt, auch wenn ich selbst diesem Anspruch nicht immer genüge. Ich bin Christ und als solcher glaube ich an die Liebe. Ich glaube daran, dass wir in der Freiheit, die uns geschenkt wurde, immer wieder die Möglichkeit haben, uns für einen liebevollen Umgang mit uns selbst, mit Anderen und auch mit der Schöpfung zu entscheiden. Das ist die große Würde des Menschen. Wir leben in einer Welt, in der sich viele dagegen entscheiden. Mit manchmal unerträglichen Konsequenzen. Auch wir selbst tun das. Aber wir haben die Zusage, dass wir immer wieder neu anfangen dürfen. Und als Christ auch den Glauben, dass wir nach dem Tod in dieser großen Liebe leben werden. Das trägt mein Leben. 

 Helga König
Helga König:Wie leben Sie Mitmenschlichkeit in Ihrem Weingut? 

Andrea Wirsching: Ich erwarte sie von mir und allen Mitarbeitern, spreche Defizite an und versuche, ein gutes Vorbild zu sein. Dazu gehört auch, mich bei eigenen Versäumnissen zu entschuldigen.

Helga König: Was bedeutet Ihnen Fairness ganz allgemein? 

Andrea Wirsching: Die goldene Regel, die für Alle gilt: "Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem Andern zu." 

Helga König:Wie wichtig ist Ihnen Fairness im Hinblick auf Ihre Winzerkolleginnen und –Kollegen und wie zentral im Hinblick auf Ihre Kunden? 

Andrea Wirsching: Im Bezug auf die Winzerkollegen bedeutet Fairness vor Allem "Gönnen können". Neid ist nicht umsonst eine Todsünde in unserer christlichen Tradition. Sich mit dem Kollegen über seine Erfolge freuen zu können, macht das Leben für uns Alle leichter und die Gemeinschaft am Ende erfolgreicher. Im Hinblick auf Kunden ist es wichtig, eine ehrliche Leistung zu bringen, authentisch und glaubwürdig zu bleiben. Heutzutage wird sehr viel gelogen – gerade im Internet. Die Generation meiner Kinder hat ein gutes Gespür für "fake news" und findet, Ehrlichkeit sei eine der wichtigsten Eigenschaften überhaupt. 

Helga König: Ist Ihrer Meinung nach ein nachhaltiger Umgang mit der Natur eine ethische Verpflichtung nachfolgenden Generationen gegenüber und wenn ja, weshalb? 

Andrea Wirsching: Wir können heute so gut leben, weil wir eine halbwegs intakte Natur und viele Ressourcen vorgefunden haben. Es zeugt von einem unglaublichen Egoismus, das Alles für sich zu nutzen und nur noch den Müll zu hinterlassen. Da gilt dann wieder die goldene Regel… Was wir hinterlassen, ist aber nicht nur Dreck und Gift, sondern auch ein grober Umgang miteinander, denn wir haben mit unserem Tun gezeigt, dass uns andere Menschen egal sind. Seien es die Länder, deren Ressourcen wir ausbeuten, oder die nächsten Generationen. Unser Verhalten ist unsere Botschaft.

Helga König: Welchen ethischen Anspruch haben Sie im Hinblick aufs Weinmachen? 

Andrea Wirsching: Wein ist ein Geschenk der Natur. Was wir tun, ist, dieses Geschenk zu kultivieren. Daher sind Dankbarkeit, der sensible Umgang mit dem Boden und den Pflanzen und eine ehrliche Arbeit im Keller unser Anspruch. 

Helga König: Welcher ethische Anspruch steht hinter Ihrem Engagement bei den "Vinissima-Frauen", deren Präsidentin Sie lange Zeit waren? 

Andrea Wirsching: Vinissima ist ein Netzwerk weiblicher Profis aus der Weinbranche, in dem es um das Miteinander und die gegenseitige Unterstützung geht. Immer mehr Frauen übernehmen Verantwortung in eigenen Betrieben, sind aber in einer überwiegend "männlichen Branche" noch in der Minderheit. Dazu kommen Frauen, die in Weinbaubetriebe einheiraten, aber eine andere Ausbildung haben. Vinissima organisiert Fach-Exkursionen, Weiterbildung und vor Allem viele Treffen, in denen sich die Weinfrauen austauschen können. Das macht Freude, stärkt und hilft konkret weiter. Eine Gemeinschaft, in der ein großer Vertrauens-Vorschuss gegeben wird, ist immer eine liebevolle Gemeinschaft. 

Helga König: Und welcher ethische Anspruch steht hinter Ihrem Engagement in der "Initiative Twin Wineries"? 

Andrea Wirsching: Die "Twin Wineries" wurden vor 10 Jahren von Renée Salzmann, einer deutschen Jüdin gegründet, die in Israel lebt. Nach dem Vorbild einer Städtepartnerschaft bilden sich "Twins" aus je einem deutschen und einem israelischen Weingut. Das Ganze ist gelebte Völkerverständigung. Unser "Twin" ist das Weingut "Kishor" im Bergland von Galiläa. Sie produzieren hervorragenden Wein und tun das Ganze in einem Kibbuz, in dem auch behinderte Menschen (sie nennen es "with special needs") mitarbeiten. Wenn ich diesen Kibbuz besuche, bin ich immer beeindruckt von der Lebensfreude der Menschen, die im Vergleich zu uns relativ bescheiden leben. Ich empfinde diesen Austausch als unglaublich bereichernd. Inzwischen war ich schon 4 Mal in Israel und meine Freunde auch hier bei uns. Wir lernen uns kennen und tauschen uns fachlich aus. Ich lerne viel darüber, mit unterschiedlich begabten Menschen zusammenzuarbeiten und auch viel über die Bewässerung, die wir hier brauchen. Meine Freunde interessiert unsere Vermarktung und die Produktion frischer Weißweine, die sie auf 600 m Höhe ja durchaus produzieren können. Für mich hat das ganze Projekt noch einen weiteren Aspekt. Ich finde es wichtig, als Deutsche die Existenz von Israel, die ja trotz der Gründung durch die UNO von vielen Staaten und einem neu aufkeimenden Antisemitismus in Frage gestellt wird, zu unterstützen und diese Freundschaft zu leben. Deswegen haben wir auch 2016 einen kosheren Silvaner produziert.

Helga König: Welche Tugenden sind für eine verantwortungsvolle Winzerin bzw. einen Winzer von besonderer Bedeutung? 

Andrea Wirsching: Winzer ist ein privilegierter Beruf wegen seiner Vielseitigkeit. Wir sind abhängig von und leben mit der Natur. Dazu braucht man Demut und Achtsamkeit. Zum Zweiten üben wir ein Handwerk aus, welches mit dem arbeitet, was in der Natur gewachsen ist und welches sich von Jahr zu Jahr verändert. Daher braucht ein Kellermeister Sensibilität und Geduld. Der dritte Aspekt bezieht sich auf den Menschen. Die Menschen, die zu uns ins Weingut kommen, kaufen nicht nur ein Lebensmittel, sondern Genuss, Kultur und Ästhetik, also Lebensfreude. Ein Winzer braucht Empathie und gute Kommunikation und die Bereitschaft, viele Stunden in den Verkauf zu investieren, also Fleiß und Disziplin. Die meisten Weingüter sind Familienbetriebe. Ich bin Glied in einer langen Kette von Generationen, nutze die Möglichkeiten, die mir zur Verfügung stehen und gebe das Ganze dann in der Familie weiter. Ich muss also dienen können. Am Ende ist ein Winzer nur dann erfolgreich, wenn er nicht egoistisch ist, wenn sich nicht alles um ihn selbst dreht. So einfach ist das. 

Helga König: In "vino veritas" heißt auf Deutsch: "Im Wein liegt die Wahrheit." Welche Wahrheit vermuten Sie, könnte hier gemeint sein? 

Andrea Wirsching: "In Vino Veritas" – im Wein schmeckt man die Wahrheit des Wetters, des Weinbergs, des Handwerks und des guten Lebens. So mancher, der über den Durst trinkt, erzählt Dinge, die er nüchtern vielleicht anders formuliert hätte… Die Wahrheit ist aber auch, dass unser Leben in eine größere Dimension eingebettet ist und das spürt man, wenn man im Weinberg steht oder ein gutes Glas Wein trinkt. In diesem Sinne: zum Wohl!

Herzlichen Dank, liebe Andrea Wirsching für das aufschlussreiche Interview.

Ihre Helga König

Anbei der  Link zu  der Homepage des Weingut  Hans Wirsching:http://www.wirsching.de/

Helga König im Gespräch mit der Schauspielerin und Lyrikerin Angélique Duvier und dem Jazz-Pianisten Vladyslav Sendecki

Angélique Duvier, Vladyslav Sendecki
 Foto: Co. Duvier/Sendecki
Angélique Duvier ist in der Nähe von Hamburg geboren. Sie hat Schauspiel studiert und an vielen großen Theatern gearbeitet. Zudem hat sie Gedichtsbände veröffentlicht und nicht zuletzt mit ihrem Ehemann Vladyslav Sendecki 2009 das Lyrik& Jazz Ensemble gegründet. 

Vladyslav Sendecki, ist ein mehrfach ausgezeichneter Jazz-Pianist und lebt derzeit in Hamburg. Aufgewachsen ist er in Krakau. Näheres siehe Interview

Liebe Angélique Duvier, lieber Vladyslav Sendecki, es freut mich sehr, dass Sie beide an dem Ethik-Langzeitprojekt auf "Buch, Kultur und Lifestyle" teilnehmen.

Helga König:  Liebe Angélique Duvier, welchen Stellenwert hat für Sie Mitmenschlichkeit in Ihrem Beruf als Schauspielerin?

Angélique Duvier
Angélique Duvier: Einen sehr hohen, denn ohne Mitmenschlichkeit ist ein (e) guter Schauspieler/in kaum in der Lage, Rollenfiguren nachzuempfinden und den Charakter so darzustellen, dass es die Zuschauer berührt. Auch den Kollegen gegenüber ist Mitmenschlichkeit extrem wichtig. Der Schauspielberuf lebt von Gefühlen, auf der Bühne, ebenso wie hinter den Kulissen. Für mich bedeutet Mitmenschlichkeit: Empathie, Rücksichtnahme, Toleranz, Aufmerksamkeit, Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe, diese Eigenschaften machen unsere Menschlichkeit aus.

Menschlichkeit wird als Grundstein der Menschenrechte gesehen. Solidarität ist ein Gefühl, dass die Menschen aufeinander angewiesen sind, dass sie daher auch verpflichtet sind, füreinander da zu sein, dass die Stärkeren den Schwächeren helfen sollten. Es ist ein Gefühl des Wohlwollens für alle Menschen, leider besitzen nicht alle Menschen eine empfindsame Seele. Die Schwächen des/der anderen zu fühlen und ihn/sie zu stützen statt ihn/sie stolpern zu lassen. "Es gibt eine gewisse Achtung und allgemeine Pflicht der Menschlichkeit, die uns verbindet, nicht nur mit den Tieren, die Leben und Empfindung haben, sondern sogar mit Bäumen und Pflanzen. Dem Menschen sind wir Gerechtigkeit schuldig, Milde und Wohlwollen aber den anderen Geschöpfen, gegen die man milde und wohlwollend sein kann." (Michel de Montaigne (1533-1592), französischer Philosoph und Essayist). 

Helga König: Welchen Stellenwert hat für Sie, lieber Vladyslav Sendecki, Fairness im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit Ihren Musikerkollegen? 

 Vladyslav Sendecki
Vladyslav Sendecki:  Ich bin sehr empfindlich, was das betrifft. Ich fühle mich unter Egomanen, Narzissten, Bluffern, Angebern und Betrügern stark unwohl ... Ich versuche solche "Personalities" zu vermeiden. Zur Fairness gehört Souveränität, Kollegialität, Unterstützung, angenehm und geschäftlich aufrichtig zu sein,  zumindest meiner Meinung nach. 

Helga König: Sie schreiben in Ihrem Text "Der Kreidekreis", dass sie als junge Frau mit der damals 94 Jahre alten Schauspielerin Erna Nitter auf der Bühne gestanden haben. Ist man in Ihren jungen Jahren respektvoller mit älteren oder gar alten Schauspielern umgegangen als heute und falls ja, woran könnte das gelegen haben? 

Angélique Duvier: Erna Nitter war eine bezaubernde Person, sie war nur an Jahren alt, nicht im Herzen, sie war neugierig und verspielt, sie war ein wenig eitel und kokettierte gern. Durch sie habe ich gelernt, dass nur der menschliche Körper altert, nicht aber die Seele. Vor einigen Tagen besuchte ich meine 95-jährige Tante im Krankenhaus, ich brachte ihr einen kleinen Teddybären mit, sie freute sich darüber wie ein Kind. Alte Schauspieler/innen haben uns Lebenserfahrungen voraus, das heißt, ihre Gefühlspallette ist stark angefüllt. Ich war immer ein neugieriger Mensch und fragte schon als junge Schauspielerin meine älteren Kollegen aus, konnte ihnen stundenlang zuhören, wenn sie mir von ihren Bühnenerfahrungen erzählten, oder über ihr Leben und habe mich stets zu älteren Menschen hingezogen gefühlt. Kein Verständnis habe ich dafür, dass älteren und alten Schauspielern kaum noch Rollen angeboten werden, dass alte Menschen von jüngeren, "älter geschminkten" Schauspielern dargestellt werden. Dieses betrifft überwiegend Frauen. Dabei bin ich sicher, dass das Publikum gern die alten Darsteller/innen auf der Bühne und im Fernsehen sehen würde. Es macht mich ehrlich gesagt traurig. 

Helga König: In Deutschland sind inzwischen über vierzig Prozent der Privatwohnungen Single-Haushalte. Ist die Vereinzelung ein typisches Phänomen des Westens oder sieht dies in Polen mittlerweile ganz ähnlich aus?

Vladyslav Sendecki: Ich habe keine Ahnung, wie es in Polen ist, da ich seit beinahe 40 Jahren nicht mehr dort lebe. Tatsache aber ist, da jeder seinen Arbeits- und Lebensrhythmus hat, könnte das Zusammenleben unter einem Dach einige Probleme verursachen. Ich denke, in Deutschland will man es einfacher und unbeschwert haben. Es wird weniger emotional und mehr geplant, in Polen (mein Gefühl) gibt es eben weniger Planung, mehr Emotion, gemeckert wird dann ein Leben lang und die Familie ist immer eine Selbstverständlichkeit, noch ... ich denke, es wird sich ändern.

Helga König: Wie verhält es sich mit der Gastfreundschaft der Polen im Verhältnis zur Gastfreundschaft der Deutschen auf Ihren beruflichen Reisen?

 Angélique Duvier
Angélique Duvier: Die Gastfreundschaft in Polen ist wirklich kaum zu übertreffen. Die Menschen sind herzlich und unglaublich aufmerksam. Polnische Männer sind den Frauen gegenüber sehr höflich, sie begrüßen und verabschieden sich mit Handkuss. Die Polen sind stolz und versuchen, ihre Gäste mit traditionellen Köstlichkeiten zu verwöhnen, dabei bieten sie alles auf was sie können, dieses geschieht entweder bei ihnen zuhause oder in einem Restaurant. Nun habe ich durch meinen Mann eine wundervolle Familie dazubekommen. Ich wurde von Anfang an mit sehr viel Liebe und Herzlichkeit aufgenommen. Meine Schwiegermutter ist ein so liebevoller und herzensguter Mensch, ich kenne kaum vergleichbare Personen. Mein Mann hat zum Glück sehr viel von seiner Mutter. Auch mein Schwager und dessen Frau sind Menschen, die man einfach lieben muss. Beide sind außerdem wunderbare Künstler.

Helga König: In welchem Land, das Sie als Pianist betreten haben, war man Ihrer Meinung nach am weltoffensten und wie äußerte sich dies?

Vladyslav Sendecki 
Vladyslav Sendecki: Schwer zu sagen, als Künstler bleibt mir vieles erspart. Ich gehe aber sehr gerne allein "auf die Straße", um "normalen" Menschen zu begegnen. Ich habe viel Glück, auf die Menschen relativ positiv zu wirken, so kommt es zu mir zurück ... Ich kann keinem Volk Weltoffenheit absprechen, Kleinkariertheit gibt es überall. Allerdings hätte ich mir z. B. in der Schweiz etwas weniger engstirnige Begegnungen gewünscht ... (ich meine Schwizerisch die "Stross oder Beiz") 

Helga König: Welche ethischen Werte sind Ihnen am wichtigsten und weshalb?

Angélique Duvier: Ehrlichkeit, Freiheit, Liebe, Achtung, Leidenschaft, Kreativität, Herausforderungen, Schönheit, gegenseitiges Verständnis, wechselseitige Unterstützung und Spiritualität, dies alles sind für mich ethische Werte, sie sind aber auch wichtig für ein gesundes Selbstvertrauen. Selbstvertrauen basiert auf Werten, die man besitzt, wie zum Beispiel das Selbstwertgefühl. 

Ich denke, wir alle haben ethische Werte, ob es uns bewusst ist oder nicht. Wir leben jeden Tag nach unseren Werten, nach Dingen, die uns wichtig sind, wie Liebe, Vertrauen oder Freiheit. Unser ethisches oder moralisches Bewusstsein ist nichts Statisches, da wir einer ständigen Reifung ausgesetzt sind, also hinterfrage ich häufig mein eigenes Handeln und Denken.

Helga König: Stimmt es, dass Künstler in der Regel weltoffener und liberaler sind als andere Menschen und falls ja, woran könnte das liegen?

Vladyslav Sendecki: Wahre Künstler denke ich, ja, aber leider lange nicht alle, die in künstlerischen Berufen arbeiten ... ich hoffe, ich werde verstanden. Wahre Künstler, ja ... Neugier, kreative und positive Begegnungen und Erfahrungen ... das inspiriert ... 

Helga König: Der indische Dichter Rabindranath Tagore sagte: "Wahre Liebe muss von innen her erweckt werden und nicht durch etwas Äußeres. Dienen kommt vor Eigennutz – das ist das Merkmal der Liebe." Stimmen Sie diesem Satz zu und glauben Sie, dass er in unserer narzisstischen Welt noch Gültigkeit hat?

 Angélique Duvier
Angélique Duvier: Absolut, gerade in unserer narzisstischen Welt sollte dieser Satz unbedingt noch Gültigkeit besitzen, und man kann ihn nicht oft genug aussprechen. Mich macht diese Eigensucht und Gier geradezu krank, daher ist es ein Grund für mich, mich von derartigen Menschen zu distanzieren und mich zurückzuziehen. Lieber verkrieche ich mich hinter guten Büchern, oder bringe einfach meine Gedanken in Gedichtform zu Papier, so kann ich mich ein wenig befreien und meinem Herzen Luft machen. 

Helga König: Worin liegt die Fähigkeit von Jazz-Musikern begründet, mit anderen Gemeinsames zu improvisieren?

Vladyslav Sendecki: An Kreativität, "Sprachkenntnissen", also die Musik, Lust am Austausch und Herausforderungen. Allgemein gesagt ... es ist ein Spiel, bei dem etwas entstehen kann. 

 Angélique Duvier, Vladyslav Sendecki
 Foto: Co. Duvier/Sendecki
Helga König: Frage an Sie beide: Welchen Stellenwert haben die sozialen Netzwerke für Sie beide als Künstler?

Angélique Duvier: Für mich bieten sich die sozialen Netzwerke als ideale Plattformen an, um auf mich als Künstlerin aufmerksam zu machen, im Gespräch zu bleiben und um zu sehen, was andere Künstler machen. Ich freue mich auch, wenn ich dadurch Kollegen, die ich aus den Augen verloren hatte, wiederfinde und neue kennenlerne. Außerdem werde ich durch die Netzwerke auf dem Laufenden gehalten, was es kulturell Neues gibt. Privates stelle ich nicht hinein, da mir meine Privatsphäre sehr wichtig ist, daher werde ich sicher nicht schreiben, wenn ich gerade einen Schnupfen habe und ein Foto meines Nasensprays posten. 

Vladyslav Sendecki: Facebook ist lustig. Schnelle Komunikation, das Wort, Bild ... es verkürzt die Wege ...

Liebe Angélique Duvier, lieber Vladyslav Sendecki, ich danke Ihnen beiden vielmals für das aufschlussreiche  Interview.

Ihre Helga König

Fotos aus dem Bestand von Angélique Duvier und Vladyslav Sendecki. Dort nach dem Namen der Fotografen fragen.


http://vladyslavsendecki.de/

Helga König im Gespräch mit Dr. Jurik Müller, Meteorologe, Buchautor und Verfasser zahlreicher Presseartikel, Bauernregelfan und Liebhaber nostalgischer Rosen.

Dr. Jurik Müller ist Meteorologe, Buchautor und Verfasser zahlreicher Presseartikel, Bauernregelfan und Liebhaber nostalgischer Rosen. Auf Twitter teilt er sein Wissen über Wetterregeln  mit und beschenkt zudem alle mit zauberhaften Blumenfotos. 

Lieber Dr. Jurik Müller, es freut mich, dass Sie an dem Ethik-Projekt "Interviews- Begegnungen mit Menschen" teilnehmen möchten. Dazu nun einige Fragen an Sie. 

Helga König: Was bedeutet Ihnen Mitmenschlichkeit und wie versuchen Sie diese zu leben? 

 Dr. Jurik  Müller
Dr. Jurik Müller: Die Erziehung zu Mitmenschlichkeit, Liebe, Empathie und Anstand bedeuten mir sehr viel. Die Fähigkeit und die Bereitschaft, Emotionen, Gedanken, Empfindungen, zum Beispiel Trauer, Mitleid und Schmerz, sowie Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensweisen verstehen zu können, sehe ich als wichtige Aufgabe in einer Gesellschaft an, in der leider sehr oft der "Ellenbogen" regiert. 

Der französische Philosoph und Schriftsteller Denis Diderot (1713-1784) brachte es aus meiner Sicht zumindest teilweise auf den Punkt, als er in Bezug auf Menschlichkeit schrieb: "Das ist ein Gefühl des Wohlwollens für alle Menschen, das nur in einer großen und empfindsamen Seele aufflammt. Diese edle und erhabene Begeisterung kümmert sich um die Leiden der anderen und um das Bedürfnis diese zu lindern; ...". Hinter diesen Worten verbirgt sich wohl auch Hilfsbereitschaft aus Mitgefühl gegenüber anderen Menschen. 

Zur Menschlichkeit gehört aber auch die Achtung vor dem Leben jedes einzelnen Individuums, aber auch vor Tieren, die oft schlimmsten Qualen ausgesetzt sind, und unserer Pflanzenwelt. Die Freiheit des Andersdenkenden im Sinne von Rosa Luxemburg und der Brückenbau zwischen Menschen anderer Weltanschauung oder Religion erachte ich als eine meiner Lebensmaximen als Atheist. Das bedeutet auch, dass ich mich politisch engagiere, im Ortschaftsrat meines Heimatdorfes, im Stadtrat und im Kreistag, in dem ich auch als Vorsitzender des Ausschusses für Soziales und Gesundheit wirke.

Mit großer Sorge und Beschämen sehe ich, das betrifft sowohl Deutschland als auch Europa, die Diskussionen, die es auf höchster politischer Ebene um das Bleiberecht von Flüchtlingen gibt. Sie sind eines Landes, dass sich Humanität auf die Fahnen geschrieben hat, unwürdig.  

 Helga König
Helga König: Welchen Stellenwert hat Fairness für Sie? 

Dr. Jurik Müller: Anstelle des Wortes Gerechtigkeit wird heute mehr und mehr das aus dem Englischen stammende Wort Fairness genutzt, unter dem ein anständiges Verhalten im beruflichen und privaten Umgang mit anderen Menschen, aber auch im Spiel und im Sport zu verstehen ist. Als ehemaliger Direktor eines Forschungsinstitutes für Agrarmeteorologie und später als Leiter einer Agrarmeteorologischen Forschungs- und Beratungsstelle habe ich versucht, auf beruflicher Ebene stets Fairness walten zu lassen. Dazu gehört natürlich auch der Mut zur Ehrlichkeit. 

Sicher ist es mir, das möchte ich selbstkritisch als Rentner mit einem gewissen Abstand zur Zeit meiner Leitertätigkeit anmerken, diesbezüglich nicht immer gelungen, ein ausgewogenes und stets gerechtes Handeln an den Tag zu legen. Fairness bedeutet auch, und das ist meine felsenfeste Überzeugung, rücksichtsvoll gegenüber anderen, Berufskollegen oder einem Partner bzw. einer Partnerin, zu sein und diese so wie sie sind, zu akzeptieren. 

Solidarität ist für mich ebenfalls mit fairem Auftreten, dem Einhalten von Normen und Regeln im menschlichen Zusammenleben, mit Transparenz und mit Gleichberechtigung in zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Frau und Mann sowie zwischen Jung und Alt verschmolzen. Schwachen zu helfen, sie zu unterstützen, gehört mit zur Fairnesserziehung. Dem Gegenüber auf gleicher Augenhöhe begegnen, das muss das Ziel auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens sein. 

Anderen zuzuhören, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, sie ausreden zu lassen, ohne sie grundlos zu unterbrechen, das ist in meinen Augen Fairness. Insofern hat dieses Wort, das auch mit Chancengleichheit untrennbar verbunden ist, einen hohen Stellenwert für mich. So versuche ich als Mensch, dessen Herz weit links in der Brust schlägt, stets den Kriterien fairen Verhaltens gerecht zu werden. 

Helga König: Sie befassen sich in Ihren täglichen Posts stets auch mit Schutzpatronen. Was können wir Menschen von diesen zumeist vor langer Zeit verstorbenen Persönlichkeiten lernen? 

 Dr. Jurik Müller
Dr. Jurik Müller: Zunächst möchte ich feststellen, dass ich nicht religiös bin und keiner Konfession angehöre, obwohl ich nachvollziehen kann, dass dieser Eindruck durch meine Posts bei Twitter entstehen mag. Dessen ungeachtet beschäftige ich mich intensiv mit der Vita von Heiligen. Die mit ihnen verbundenen Geschichten, Überlieferungen und Anekdoten gehören zum Kulturgut. Seit dem ich im Jahre 1991 angefangen habe, selbst Bauernregeln zu verfassen, denen Gedenktage von Heiligen zugrunde liegen, fasziniert mich deren Leben und Verhalten, aus dem man auch für die heutige Zeit viel lernen kann. Nehmen wir als Beispiel Hildegard von Bingen, die um 1098 in Bermersheim geboren wurde, im Jahre 1179 auf dem Rupertsberg bei Bingen starb und als Klostergründerin, Äbtissin und Mystikerin wirkte. In Bezug auf sie reimte ich: "Brauchst du um Hildegard (17.09.) noch einen Sonnenhut, tut der Herbst bis Burkhard (14.10.) den Trauben gut." 

Obwohl von zartem und gebrechlichem Wesen und in einer von Männern dominierten Welt lebend, war Hildegard, der Name bedeutet "rettende, beschirmende Heldenjungfrau", politisch engagiert und machte auch als Künstlerin, Dichterin und Ärztin von sich reden. Die von ihr festgehaltenen, eine gesunde Lebensführung betreffenden Regeln befassten sich auch mit sexuellen Fragen. Als mutig und richtungsweisend müssen die von ihr entwickelten Gedanken zur Rolle der Frau angesehen werden.

Ihre Vorstellungen von Naturheilkunde und Ernährung fanden in jüngerer Zeit wieder große Beachtung. Die besondere Leistung Hildegards besteht darin, das damalige Wissen über Krankheiten und Pflanzen aus griechisch-lateinischer Tradition mit der Volksmedizin zu verbinden. Sie hatte unter anderem so großen Erfolg, da sie bestrebt war, die volkstümlichen Pflanzennamen zu verwenden. 

Andere Heilige setzten sich zu Lebzeiten für Schwache und Kranke oder Arme und Bedürftige ein. In diesem Zusammenhang sei an den von 1578 bis 1622 lebenden Fidelis von Sigmaringen, den "Advokat der Armen", erinnert, der sich menschlich und sozial sehr engagierte. Eine solche Haltung wünschte man sich von manchem unserer Zeitgenossen. 

  Helga König
Helga König: Zudem erfreuen Sie Ihre Leser mit Wetterregeln. Wie reagieren Ihre Leser auf diese oft hilfreichen Posts? 

Dr. Jurik Müller: Ich muss gestehen, dass es sich bei den meisten meiner Posts um Wetterregeln aus der eigenen Feder handelt. Innerhalb der letzten 27 Jahre sind 4000 solcher Reime entstanden, von denen ich etwa 1000 in dem im Jahre 2008 beim BS Verlag Rostock erschienenen Buch "Bauernregeln, Wettersprüche und Lostagreime aus der Feder von Dr. Jurik Müller" vorgestellt habe. Was aber bewegt nun einen Meteorologen, eigene Bauernregeln zu dichten und niederzuschreiben? Auf diese Frage angesprochen, lautet die Antwort, den Schatz bäuerlicher Erfahrungen für die Nachwelt zu erhalten, die aufgezeigten mehr oder weniger guten Zusammenhänge in neue "Wortgewänder" zu kleiden und mit den Reimen aus eigener Feder das Interesse an den Bauernregeln neu zu beleben. 

Meine Absicht besteht aber auch darin, manchen Kritiker der vom Volksmund überlieferten Spruchweisheiten nachdenklich zu stimmen und ihn offener für das Denken des Landmanns in früherer Zeit zu machen. Darüber hinaus bereitet es immer wieder Spaß, so mit den Worten zu jonglieren, dass keine Sinnentstellung oder gar Negierung des vom Volksmund in Sprüche gefassten Wissensstandes der Bauern in früheren Jahrhunderten entsteht. 

Ich spüre, dass die mir folgende "Twittergemeinde" meine "Bauernregelposts" mit großem Interesse zur Kenntnis nimmt. Das belegen auch viele Reaktionen, die sich nebenbei gesagt, aber auch auf meine Natur- und Liebeslyrik beziehen. Natürlich freue ich mich darüber. Auch die Tatsache, dass unzählige Zeitungsartikel von mir zum Thema Bauernregeln, insbesondere in der Mitteldeutschen Zeitung, in der Südthüringer Zeitung und in der Bauernzeitung erschienen sind, belegen die wachsende Bereitschaft der Bevölkerung, sich mit dem Thema Bauernregeln zu befassen. In den Jahren 2011, 2014 und 2016 erschienen weitere Bücher, die sich mit den Hintergründen der alten Spuchweisheiten und der von mir verfassten neuen Sprüche auseinandersetzen, beim BLV Buchverlag München. 

Ein Ziel meiner Aktivitäten bei Twitter, die offenbar von den Followern begrüßt werden, besteht auch darin, das Bauernwissen, auch wenn die Sprüche die Leistungen der modernen Meteorologie nicht ersetzen können, in das Bewusstsein vor allem auch jüngerer Menschen zu heben, gingen doch in der Hektik unserer schnelllebigen Zeit das Gespür für die Vorgänge in der Natur und die Fähigkeit der Beobachtung solcher Vorgänge verloren. 

Helga König: Ihre Fotos verdeutlichen, dass Sie ein Blumenfreund sind.  Möchten Sie Ihre Mitmenschen mit den Blumenbildern eine besondere Freude machen und ein wenig mit der Natur versöhnen oder worum geht es ansonsten bei den von Ihnen geposteten schönen Fotos? 

  Dr. Jurik  Müller
Dr. Jurik Müller: Die von 1785 bis 1859 lebende Schriftstellerin Bettina von Arnim schrieb einmal: "Blumen sind die Liebesgedanken der Natur". Dieses Zitat lässt mich seit der Zeit, in der ich in Weimar die Erweiterte Oberschule "Friedrich Schiller" besucht habe, die ich 1967 mit dem Abitur abschloss, nicht mehr los. Auch meine ungarische Ehefrau hat einen großen Anteil daran, dass ich mich leidenschaftlich gern mit Blumen befasse. Sie tut das nämlich seit ihrer Kindheit. Vor einigen Jahren schenkte sie mir zu Weihnachten eine Spiegelreflexkamera. Und seitdem vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht im Garten oder bei einem Spaziergang etwas Neues entdecke, dass mich reizt, diese Digitalkamera einzusetzen. An den so entstandenen Blumen- und Gartenfotos habe ich selbst große Freude und sehe es natürlich gern, wenn ich auch anderen damit Freude machen kann. 

Natürlich liegt mir auch daran, das Verhältnis der Menschen zur Pflanzen- und Tierwelt zu verbessern, die oft achtungslos an den Schönheiten, welche die Natur für uns bereit hält, vorübergehen. Auch Wildpflanzen haben es mir angetan. Sie werden eigentlich zu Unrecht als Unkraut bezeichnet, haben sie doch wichtige Aufgaben im "Haushalt" der Natur zu erfüllen. Viele der Blumenfotos, die ich angefertigt habe, sollen auch die Stimmung, die in meinen Natur- und Liebesgedichten zum Ausdruck kommt, unterstreichen. 

  Helga König
Helga König: Was sagen Sie als Meteorologe zum Klimawandel, speziell im Hinblick auf die Verantwortung gegenüber den Folgegenerationen? 

Dr. Jurik Müller: Wer mit offenen Augen durchs Leben geht, wird es bemerkt haben, die Wetterextreme nehmen zu. So gestaltet sich die räumliche und zeitliche Verteilung der Niederschläge immer ungünstiger. Dürren plagen die Landwirtschaft. Sturmereignisse und Tornados, wer sprach schon vor 30 bis 40 Jahren hierzulande von den oft kleinräumigen, aber sehr verheerenden, rotierenden Luftsäulen mit Bodenkontakt, treten immer häufiger auf. Die Atmosphäre gerät aus ihrem goldenen Gleichgewicht, schafft sich Ventile in Gestalt von katastrophalen Unwettern. 

Wenn die Menschen so weitermachen wie bisher, Urwälder roden, Raubbau an natürlichen Ressourcen betreiben, sich nicht alternativer Energieformen bedienen, steuern wir auf einen Punkt zu, an dem irreversible Vorgänge in der Atmosphäre in Gang gesetzt werden, die das Leben auf unserem Planeten gefährden können. So lange die Gier nach Profit im Vordergrund steht, lässt sich dem Fortschreiten des Klimawandels, der vielleicht vorübergehend in Südschweden auch den Anbau von Riesling ermöglichen würde, bis hin zur Klimakatastrophe nicht Einhalt gebieten. 

Eiskeller oder Treibhaus? Bei dieser Frage streiten sich hier und da noch die Geister. Auf jeden Fall lässt sich die voranschreitende Klimaerwärmung meines Erachtens nicht mehr leugnen. Wenn sich nicht alle etwas einschränken, besteht die Gefahr, dass wir künftigen Generationen gemäß dem Motto "Nach uns die Sintflut" eine nicht mehr intakte, nicht mehr lebenswerte Umwelt hinterlassen. 

Helga König: Dort, wo Sie zuhause sind, hat die Heilige Elisabeth einst gewirkt. Welche Bedeutung hat für Sie Barmherzigkeit? 

  Dr. Jurik  Müller
Dr. Jurik Müller: Auf der Wartburg bei Eisenach existieren Wandgemälde von Moritz von Schwind, die als die sieben Werke der Barmherzigkeit der heiligen Elisabeth von Thüringen bzw. von Ungarn bekannt geworden sind: Die Hungrigen speisen, Die Durstigen tränken, Die Nackten kleiden, Die Müden beherbergen, Die Gefangenen trösten, Die Kranken pflegen, Die Toten begraben. In diesen sieben Werken tritt die Heilige Elisabeth als Trostspenderin und Helferin auf. 

Barmherzigkeit heißt für mich, mein Herz fremder Not zu öffnen und sich ihrer mildtätig anzunehmen, also Menschen in schweren Lebenssituationen zu helfen. In Verbindung damit stehen Gerechtigkeit und Zuwendung. Barmherzigkeit bedeutet aus meiner Sicht aber auch, Fremde aufzunehmen. Leider wird in der heutigen Zeit der Begriff Barmherzigkeit auf die Verteilung von Almosen reduziert. Für mich stellt die heilige Elisabeth ein Vorbild barmherzigen Handelns dar. 

Als Elisabeth im Hungerjahr 1226 alles verfügbare Korn an Arme und Bedürftige austeilen ließ und heftige Vorwürfe gegen sie laut wurden, sollen sich einer Legende zufolge alle Säle und Kammern mit Korn gefüllt haben. Die Schutzpatronin der Witwer, Waisen, Bäcker und Obdachlosen wird in der Kunst nicht umsonst mit einem Korb voll Rosen, einem Korb mit Broten, einer Schüssel mit Fischen und einem Bettler dargestellt. Brot und Rosen als ein Symbol der Barmherzigkeit. 

  Helga König
Helga König: Welche Tugenden benötigt ein Mensch, um ein Menschenfreund zu sein und kann man diese Tugenden kultivieren? 

Dr. Jurik Müller: Zu den Tugenden eines Menschenfreundes würde ich die Fähigkeiten zählen, anderen zuzuhören, sich in einen Menschen hineinzuversetzen, Verständnis auch für bestimmte Laster aufzubringen, nachsichtig zu handeln und Beleidigungen sowie Kränkungen zu vermeiden. Als weitere Tugenden erachte ich, das Vorgehen gegen Unrecht, sich gegen dieses zu empören und zu wehren, Erniedrigungen anderer zu verurteilen, vor Gefahren zu warnen und auch vor sittlichem Verfall. Dass solche Tugenden in einer Gesellschaft, in welcher der Tanz um das Goldene Kalb im Vordergrund steht, zu verkümmern drohen, versteht sich von selbst. 

Daher ist es dringend vonnöten, im gesamten Schul- und Erziehungswesen, dieser Tatsache in angemessener Form Rechnung zu tragen. Mit der Erziehung zu humanistischem Handeln, die Gesellschaft dahingehend zu reformieren, dass sich wieder mehr Menschen solche Tugenden zu eigen machen, und der Wert eines Menschen nicht durch seinen Geldbeutel definiert wird. 

Helga König: Wie wichtig ist Ihrer Ansicht nach ein intensiveres Ethik-Verständnis im Hinblick auf unsere neoliberalen Zeiten? 

  Dr. Jurik  Müller
Dr. Jurik Müller: Betrachtet man Ethik als einen Teilbereich der Philosophie, der sich mit der Bewertung und den Voraussetzungen menschlichen, moralischen Handelns befasst und Hilfe für sittliche Entscheidungen liefern soll, so besitzt diese im Hinblick auf unsere neoliberalen Zeiten eine große Bedeutung, da in diesen eine Rückbesinnung auf den "Raubtierkapitalismus" erfolgt. Dabei steht für neoliberal eine Abwendung von sozialer Marktwirtschaft. Indem der Staat dem Kapital die Zügel in die Hand gibt, vergrößert sich die Gefahr von Lohn- und Sozialabbau. Wesentlich für eine ethische Bewertung der Handlungen der Menschen sind daher die mit ihnen verbundenen Folgen. 

  Helga König
Helga König: Glauben Sie, dass der bewusste Umgang mit Bäumen, Pflanzen und Blumen Menschen positiv verändern kann und wenn ja wie? 

Dr. Jurik Müller: Der bewusste Umgang mit Bäumen, Pflanzen und Blumen kann durchaus Menschen positiv verändern, wenn sie begreifen lernen, dass wir die Natur zum Leben brauchen. Diesem Grundsatz sollte bereits im Kindergarten und später in der Schule Rechnung getragen werden. Eine Zerstörung der Natur durch falsches Verhalten der Menschen, ich denke hier nur an das Bienen- und Insektensterben, kann uns unserer Lebensgrundlagen berauben. 

Übertriebene Flächenversiegelungen verändern nicht nur nachteilig den Wasserhaushalt in betroffenen Arealen, sondern schädigen auch die Pflanzenwelt der Umgebung. Mein Vater sagte einmal zu mir: "Wo Bäume sterben, stirbt auch der Mensch". Das hat mich zu nachstehendem Gedicht verleitet: 

Ein lautloser Schrei 
Am Dorfrand 
hatte er gestanden, 
Schattenspender und Regenschutz 
zugleich. 
In seiner Rinde schlugen 
die Herzen Jungverliebter. 
Als die Säge 
sich ins Stammholz fraß, 
weinten die Vögel. 
Der Abschied, 
ein lautloser Schrei. 
In seinen Jahresringen 
lebten Märchen 
aus Großmutters Tagen.

Lieber Dr. Jurik Müller, ich danke Ihnen für das aufschlussreiche Gespräch.

Ihre Helga König

Anbei der Link zum Twitteraccount von Dr. Jurik Müller: https://twitter.com/DrJurikMueller

Helga König im Gespräch mit dem Instructional Designer und Berater für Ausbildungslösungen Marc Schnau

Marc Schnau ist ein derzeit in der Schweiz lebender Instructional Designer und Berater für Ausbildungslösungen. Auf Twitter kennt man ihn als einen sehr interessierten, menschenfreundlichen Zeitgenossen, mit dem man gerne im Dialog steht.

Lieber Marc Schnau ich freue mich, dass sie am Ethikprojekt "Interviews. Begegnungen mit Menschenfreunden im Netz" teilnehmen. Dazu an Sie nun einige Fragen.

Helga König: Was bedeutet für Sie ein sinnstiftendes Miteinander beruflich als auch privat? 

 Marc Schnau
Marc Schnau: Mir geht es im Miteinander um Toleranz, Zugewandtheit, gemeinsame Werte, gegenseitige Achtung. Wenn man es so beschreiben mag, um unsere Sozial- und Wertegemeinschaft als gesellschaftsumfassende Klammer. Und das sowohl im privaten, wie auch in öffentlichen/beruflichen Bereich. Diese Klammer hat in den vergangenen Jahrzehnten vieles, wenn nicht alles zusammen gehalten. Spätestens seit den 90er Jahren ist aber zu beobachten, wie uns dieser Rahmen mit zunehmender Geschwindigkeit unter den Füßen wegbröckelt. Und diese Entwicklung nimmt vor allem in Ländern mit (rechts-) populistischen Regierungen immer mehr Fahrt auf. Aktuell lässt sich zum Beispiel in Österreich beobachten, wie effizient die Sozial- und Wertegemeinschaft als gesellschaftliches Fundament der Gesellschaft von verantwortlichen Stellen, meist populistisch agierenden Mitgliedern der führenden politischen und wirtschaftlichen Gruppen, gezielt demontiert wird. 

Es beginnt immer mit der Marginalisierung einzelner Bevölkerungsgruppen. Im beruflichen Rahmen sind nach meiner Erfahrung keine guten bis sehr guten Leistungen, zum Beispiel im Projektgeschäft, möglich, wenn es in dem Miteinander Störungen gibt. Vor kurzem habe ich beispielsweise ein großes "Unternehmen" in Wien kennengelernt, in dem Neid, Missgunst und ähnliches vorherrschen. Die Führung begeht dort den fatalen Fehler, nicht aktiv gegen solche Fehlentwicklungen anzugehen. In der Folge ist die Kommunikation innerhalb der und zwischen den Ebenen massiv gestört, die eigentliche Leistungserbringung hängt vor allem an dem überdurchschnittlichen Engagement einzelner Personen. Brechen diese irgendwann weg ... 

Auch die Güte der Leistungen leidet in solch einem Arbeitsumfeld massiv. Mit all dem will ich mich jetzt keinesfalls als der große Menschenversteher, welcher alles richtig macht, hinstellen. Das ganze Thema, übergeordnet würde ich hier vielleicht "Kommunikation" setzen wollen, ist bei weitem nicht so einfach, wie es einen viele glauben machen wollen. Ganz im Gegenteil, es ist eine Angelegenheit von Stolpern, Sackgassen, Schlaglöchern, falschem Abbiegen usw. 

 Helga König
Helga König: Wie entscheidend ist Ihrer Meinung nach Fairness für ein friedliches Miteinander?

Marc Schnau: Fairness … ist meiner Meinung nach nicht das allein Entscheidende. Tatsächlich halte ich Empathie für wesentlich wichtiger. Um eine Situation, Begebenheit oder sonst etwas wirklich fair beurteilen zu können, braucht Mensch zig Fakten. Und dazu muss der oder die Beurteilende diese Fakten auch noch verstehen und richtig einsortieren können. Meiner Meinung nach ist es, mit Ausnahme von Expertinnen/Experten, niemandem wirklich möglich. Hier kommt unter anderem die Empathie ins Spiel, welche Menschen auch befähigt, von der Faktenlage her nicht schnell fassbares grob einzuordnen und in einem gewissen Rahmen zumindest zu gewichten, ggf. grob zu bewerten.

Um auf die Fairness zurückzukommen: Fairness ist natürlich wichtig, Fair zu sein ist aber keine leichte Übung. Ich würde sie sogar als komplex bezeichnen. Mit Offenheit und Gesprächsbereitschaft ist sicherlich ein guter Anfang gemacht. Dazu gehört auch, dass man sich schnellstmöglich von dem Beharren und dem verkrampften Beharren auf Positionen verabschiedet und vielleicht erstmal beginnt, nach Gemeinsamkeiten bzw. gemeinsamen Positionen zu suchen.

Helga König: Sie schreiben in einem Tweet "Und ja, ich denke, dass sich bei geistig gesunden Menschen Empathie ausbilden lässt. Mit der freien Entscheidung tue ich mich schwer". Können Sie den Gedanken hier etwas näher ausführen?

 Marc Schnau
Marc Schnau: Empathie lässt sich meiner Meinung nach trainieren. Indem Mensch lernt hinzuschauen, nicht vorschnell zu urteilt, sondern erst nach Beschäftigung mit den Fakten eine Meinung erlaubt. Grundsätzlich denke ich, dass Empathie eine Fähigkeit ist, die von klein auf erfahren und geübt werden sollte. Das Leben wird spürbar leichter und vielleicht etwas weniger rätselhaft. Was die freie Entscheidung angeht: nein ich denke nicht, dass mit Ausnahme psychisch nicht so ganz gesunder Menschen, jemand das empathische Empfinden belieben ein- oder ausschalten kann. Empathie ist mehr fühlen als denken und unsere Gefühle sind in der Regel einfach da, sie fragen nicht, bestimmen aber einiges.

  Helga König
Helga König: Sie haben mir erzählt, dass Sie seit einigen Jahren zwei Projekte der Stanford-University unterstützen. Dabei geht es darum, Bildung in abgelegene, problematische Regionen dieser Welt zu bringen, so etwa für Kinder von Wanderarbeitern in Südamerika oder im tiefsten Thailand. Können Sie dazu unseren Lesern Näheres berichten? 

Marc Schnau: Bei den Projekten handelt es sich um "1001 Stories" und "SMILE", zwei Bildungsprojekte unter der Überschrift "Seeds of Empowerment", bei denen ich als Project Assistant im Bereich Field Operations and Technology mitwirke. Wobei ich meine Aktivitäten dort aus zeitlichen Gründen deutlich zurückgefahren habe. https://www.seedsofempowerment.org/our-team/ In "1001 Stories" geht es z.B. darum, Kindern der Millionen von Wanderarbeitern in Südamerika mit Hilfe von überlieferten Geschichten und vor allem Liedern nicht nur Lesen und Schreiben zu vermitteln, sondern auch einen Begriff von einer eigenen Kultur nahezubringen. Diese Geschichten, Lieder und darauf aufbauenden Übungen, werden mit Hilfe eigens zu diesem Zweck entwickelter, sehr einfacher, äußerst wartungsarmer Kleinstcomputer in der Breite verteilt, zwischendurch immer wieder neu bestückt und z.B. an kleinen Solar-Stationen geladen. 

Den Eltern werden auf diese Art einfachste Grundlagen der Hygiene, Erstversorgung u.a vermittelt. Seeds of Empowerment bestückt ganze Klassen und Schulen weit draußen, jenseits der sogenannten Zivilisation mit einfachen Laptops oder Tablets, welche mit Lernmitteln bestückt sind. Die Vernetzung innerhalb der Schulen erfolgt mittels einfacher, brotdosengroßer WLAN-Router, die Lehrkräfte und Schüler/innen können so miteinander kooperieren, sich austauchen usw. Wichtig ist auch hier, dass alles robust, wartungsarm, einfach bedienbar ist und über Solarpanels, Autobatterien o.ä. versorgt werden kann. 

Helga König: Sie haben heute in einem Dialog geäußert "Ich habe den Eindruck, dass erhebliche Teile der Bevölkerung dringend das Zuhören lernen müssen." Ist Zuhören eine Grundvoraussetzung für ein friedliches Miteinander und falls ja weshalb? 

 Marc Schnau
Marc Schnau: Diese und die folgenden Fragen und Antworten stehen alle mehr oder weniger miteinander in Zusammenhang. Wir haben einen Stand der Diskussionskultur erreicht, in dem nur noch die eigenen Positionen vertreten, ja verteidigt werden, aber niemand mehr in Ruhe zuhören mag, Es macht nicht nur in den Online Netzwerken den Eindruck, dass, wer am lautesten brüllt, zuletzt Recht behält. Und das lernen die Menschen unter anderem auch in Talkshows, in denen es nur noch um den spektakulärsten Krawall zu gehen scheint. Ja, Zuhören ist ganz sicher eine Grundvoraussetzung für ein friedliches Miteinander. Zu zeigen "Ich höre Dich" und dann sachlich, ohne diese überzogene aufgeblasene Emotionalität, die unterschiedlichen Standpunkte zu diskutieren, ist so wichtig. Im besten Fall stellt man hinterher fest, dass man selbst auch etwas gelernt hat, vielleicht sogar die eigene Meinung hinterfragt, überdenkt und ggf. anpasst. Man könnte ja wirklich falsch gelegen haben. 

  Helga König
Helga König: Sie haben einen Tweet retweetet, den ich sofort gelikt habe, als ich ihn las: "Rassismus ist- wenn Dein Kopf zu klein ist für die Weite der Welt". Was möchten Sie diesem Tweet, diesen kommentierend hinzufügen? 

Marc Schnau: Eigentlich gibt es dazu nicht viel zu sagen. Na, doch: es ist keinesfalls abfällig gemeint. Dahinter steckt eine relativ einfache Wahrheit, nämlich das Unbekanntes oder auch Unbegreifliches Angst bzw. Unsicherheit erzeugt. Heute würde ich so einen Tweet nicht einfach retweeten, es ist missverständlich, hat das Potential, andere Menschen vor den Kopf zu stoßen. Und Menschen, egal welcher Herkunft oder Bildungsschicht, die sich vor den Kopf gestoßen, beleidigt, beschimpft oder gering geschätzt fühlen, sind für sachliche Diskussionen kaum mehr zugänglich. 

Helga König: Ein anderer Tweet, den Sie retweetet haben, lautet "Klarheit verlangt Offenheit im Denken". Was bewirken Denkbarrieren gesellschaftlich und wie könnte man sich gemeinschaftlich bemühen, diese zu beseitigen? 

 Marc Schnau
Marc Schnau: Offenheit bedeutet für mich, dass ich bewusst darauf achte, auch, vielleicht sogar bevorzugt, Meinungen, Artikel und Beiträge zu lesen, wahrzunehmen, die eben nicht meine Meinung wiederspiegeln, sondern eher kontrovers sind und andere Argumente und andere Sichtweisen vertreten. Bewusst die eigene Informationsblase verlassen, sich nicht in gegenseitiger Bestätigung ausruhen, sondern genau hinschauen und den Dialog suchen. Offenheit im Denken verlangt nach Offenheit in der Kommunikation. Gerade in den sogenannten sozialen Medien ist dieses Verharren in der eigenen Filterblase und das Herumdreschen auf Menschen, die es wagen auch kritische, vielleicht sogar missliebige Meinungen zu äußern nahezu ununterbrochen zu beobachten. Ich halte das für sehr gefährlich, der Diskurs stirbt, es geht nur mehr um die Wahrung von Positionen, nicht um die echte Diskussion von Inhalten (die auch mal unangenehm sein darf, oder wehtun darf). just me, Marc 

 Helga König 
Helga König:"Wie kriegen wir Herzenswärme in die Köpfe vieler?“ fragen Sie in einem Tweet. Könnte mehr Herzenswärme in den Köpfen vieler Ihrer Meinung nach die Welt verändern und wenn ja, wie? 

Marc Schnau: Menschen, die sich an die Hand genommen fühlen, die merken, dass sie gesehen, wahrgenommen und respektiert werden, laufen wesentlich weniger in die Gefahr, den heutigen radikalen Rattenfängern und vermeintlichen Heilsbringern jedweder Couleur und politischen Ausrichtung in die Hände zu fallen. Wahrgenommene, gehörte Menschen sind Gesprächen und Argumenten gegenüber zugänglich. Menschen, die abfällig behandelt, an den Rand der Gesellschaft geschoben werden, ganz sicher nicht. 

Helga König: Hat sich Ihre Art zu kommunizieren, durch die sozialen Netzwerke verändert? 

 Marc Schnau
Marc Schnau:  Nein. Ja. Vielleicht. :-) Ich kommuniziere im Netz anders, als im wahren Leben. Im Netz fehlen zu viele Ausdrucksmöglichkeiten, die Diskussionskultur ist teilweise fragwürdig, tlw. wie auf Twitter, durch Zeichenbeschränkungen stark beschnitten. Im Netz tummeln sich ungezählte Sender, aber nur wenige sind anscheinend auch willens zu empfangen bzw. zu diskutieren. In Fachforen sieht das glücklicherweise noch ein wenig anders aus. Twitter, Facebook und Co. sind hier etwas anders aufgestellt. Am meisten missfällt mir, dass mittlerweile auf allen Plattform der Umgang miteinander immer unangenehmer wird und man schon sehr genau schauen muss, wem man folgt, in die Kreise aufnimmt.

Lieber Marc Schnau, besten Dank für das aufschlussreiche Gespräch

Ihre Helga König

Helga König im Gespräch mit dem Heilpädagogen, Logotherapeuten und bekennenden Lebenskünstler Prof. Dr. Dieter Lotz

Prof. Dr. Dieter Lotz ist Heilpädagoge, Logotherapeut sowie bekennender Lebenskünstler und als solcher, wie seine  Tweets  verdeutlichen, ein humoriger Menschenfreund. 

Lieber Prof. Dr. Dieter Lotz, es freut mich, dass Sie an dem Ethik-Projekt "Interviews- Begegnungen mit Menschenfreunden" teilnehmen. Dazu an Sie folgende Fragen:

Helga König: Was bedeutet für Sie Mitmenschlichkeit? 

 Prof. Dr. Dieter Lotz
Prof. Dr. Dieter Lotz: Mitmenschlichkeit bedeutet für mich, dass unsere Mitmenschen "ohne Ansehen der Person" gleich sind. Jeder Mensch verdient Respekt, Rücksicht und Wertschätzung seiner Person. Das bedeutet aber nicht, alle Taten von Menschen zu akzeptieren! Achte den Täter, aber ächte (mitunter) die Tat! Lautet ein geflügeltes Wort. 

 Helga König
Helga König: Welchen Stellenwert hat für Sie Fairness im Umgang mit Ihren Mitmenschen? 

Prof. Dr. Dieter Lotz: Die Goldene Regel lautet: "Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst." Oder: "Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu." Fairness ist meine Absicht, ob mein Gegenüber mich oder mein Tun als fair bewertet, obliegt seiner Interpretation. Gibt es eine Diskrepanz, so besteht Gesprächsbedarf! 

Helga König: Sie haben dieser Tage nachstehende Forderung retweetet: "Wir brauchen ein philosophisches Studium Generale für ALLE Studierenden (in einem 1. Studienjahr von dann regulär 6 Studienjahren)."Können Sie unseren Lesern begründen, weshalb das nach Ihrer Ansicht wirklich wichtig ist? 

 Prof. Dr. Dieter Lotz 
Prof. Dr. Dieter Lotz: Bildung besteht für mich aus Erfahrung, Wissen und Erkenntnis. Gerade letztere kommt nach meiner Beobachtung in Bildungseinrichtungen zu kurz oder entfällt. Es geht einmal um Erkenntnistheorie und zum anderen um die vertiefende Behandlung existentiell notwendiger Lebensthemen, wie Kommunikation und Konfliktlösungen, oder um finanzielle und physische Haushaltsgestaltungen, um nur wenige der sinnvollen Themen zu benennen.  

Helga König: Carl Ludwig Börne schrieb "Humor ist die äußerste Freiheit des Geistes; Humor ist immer souverän." Wie sehen Sie das? 

Prof. Dr. Dieter Lotz: So ähnlich hat es auch Viktor Frankl, der Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse, gesagt. Aus seiner Sicht trägt Humor in der Logotherapie dazu bei, dass der Mensch als "Selbstdistanz" sich selber erkennen kann. Er kann über sich lachen! So hat er die Gelegenheit, aus der Verhaftung mit dem Leiden herauszuwachsen. Siehe auch: https://shop.auditorium-netzwerk.de/detail/index/sArticle/5430/sCategory/2818 5)

Helga König: Sie haben meinen Tweet "Wir dürfen Demütigungen nicht zulassen, denn sie schaden unserer Würde. Ohne das Gefühl von Würde, verkümmert der Mensch" retweetet. Was bedeutet für sie ein würdevolles Leben?

 Prof. Dr. Dieter Lotz
Prof. Dr. Dieter Lotz:  Der Begriff Wert hat eine mindestens zweifache Bedeutung. Einmal bezieht er sich auf Materielles, anderseits auf Immaterielles beziehungsweise Ideelles. "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ [Art. 1 Absatz 1 GG] ... und auch einer jeden Person sich selbst und anderen gegenüber! Dieser Anspruch ist zwar als Text und Intention unanfechtbar, er wird aber meines Erachtens viel zu oft mit Füßen getreten! Ja: ohne Wertschätzung und Würdeerfahrung verkümmerte ein Mensch. Wir sprechen hier von Deprivation: ein Mensch wird um seiner existentiellen Bedürfnisse beraubt. Insofern ist Wertschätzung ein Geschenk, ein Kind kann nicht selber seinen Wert fühlen. Es ist nahezu angewiesen auf wertschätzende Resonanz. Tipp: Baer, Udo und Frick-Baer, Gabriele: (2009) Würde und Eigensinn. Beltz Verlag, Weinheim

Helga König: "Psychopathische Machthaber sind unberechenbar. Ihrer Willkür begegnet man wie? Devot? Konfrontativ? Huldigend?" Wie beantworten Sie Ihren jüngst geposteten Tweet?

Prof. Dr. Dieter Lotz: Ihre Unberechenbarkeit macht Psychopathen so gefährlich, insbesondere wenn sie Macht haben über andere, so wie manche -nicht wenige- Führungspersonen. Ich bezweifle leider auch ihre Einsichtsfähigkeit in ihre Persönlichkeitsstruktur. Daher finde ich wirksame Kontrollgremien in Demokratien so wichtig. Diese werden in Diktaturen systematisch abgebaut. Ideal sind oder wären Leitungspersonen, die ihre Aufgabe als Dienst verstehen. Wichtig ist auch, dass sie rechenschaftspflichtig sind, etwa einem Parlament oder ihren Mitarbeitern gegenüber. Sie sind "nur" Bevollmächtigte. 

Helga König: Woran mangelt es den Menschen Ihrer Ansicht in unseren neoliberalen Zeiten am meisten? 

 Prof. Dr. Dieter Lotz
Prof. Dr. Dieter Lotz: Im Bildungsbereich an Muße; Schule sei auch ein Ort der Muße, Reflektion und Besinnung! In der Wirtschaft an Mäßigung. Die Konsumversessenheit lenkt ab vom Wesentlichen. In der Gesellschaft am Sinn für den Anderen. Der Singularismus (nicht der Individualismus!) stehe auf dem Prüfstand der Gemeinschaft. Für wen und mit wem will ich leben? 

Helga König: Woran denken Sie spontan, wenn Sie den Begriff "sich kümmern" hören? 

Prof. Dr. Dieter Lotz: Systeme wie die Familie, Bildungseinrichtungen oder Betriebe leben von Menschen, die sich kümmern und Verantwortung übernehmen! Sie erkennen die Notwendigkeit, sich zu kümmern – unabhängig davon, was andere tun.

Helga König: Ein Mensch mit Humor erfreut seine Mitmenschen. Wie verhält es sich dies Ihrer Meinung nach bei einem ironischen oder gar zynischen Menschen? 

 Prof. Dr. Dieter Lotz
Prof. Dr. Dieter Lotz: Ironie und Zynismus sind Entgleisungen des Humors. Betroffene haben oft selber solche Umgangserfahrungen machen müssen. Wer unstimmig ist als Zyniker etwa, brauchte aus meiner Sicht ein paar (Logo-)Therapiestunden. Die generelle Frage lautet: lebe ich so wie ich lebe mit innerer Zustimmung? 

Helga König: Welchen Stellenwert hat für Sie Gerechtigkeit im Verhältnis zur Freiheit? Die Schwester der Freiheit ist die Verantwortung. Mündet meine Freiheit hinein in Verantwortung für eine Aufgabe oder einen anderen Menschen? 

Prof. Dr. Dieter Lotz: Freiheit sollte also Verantwortung intendieren. Die Gerechtigkeit ist so eine Sache für sich: wer bewertet sich und andere diesbezüglich? Auch hier geht es um die aufrichtige Absicht. Mein akademischer Lehrer Wolfgang Klenner sagte dazu: "Gerechtigkeit gibt es nur im Himmel!"

Lieber Prof. Dr. Dieter Lotz, ich danke Ihnen vielmals für das erhellende Interview
Ihre Helga König

Anbei die Website von Prof. Dr. Dieter Lotz:http://www.heilpaedagogik-lotz.de/

Helga König im Gespräch mit Dr. Gertrud Müller, Soziologin, Verhaltenswissenschaftlerin, Psychoonkologin

Liebe Gertrud Müller, Sie sind Soziologin, Verhaltenswissenschaftlerin, Psychoonkologin, und wurden in Philosophie an der LMU München zum ...