Helga König im Gespräch mit Dr. Gertrud Müller, Soziologin, Verhaltenswissenschaftlerin, Psychoonkologin

Liebe Gertrud Müller, Sie sind Soziologin, Verhaltenswissenschaftlerin, Psychoonkologin, und wurden in Philosophie an der LMU München zum Thema "Was ist S(s)chuld?" promoviert. Auf Twitter betreiben Sie einen Account und empfehlen diesen dort mit den Worten: "Eine neue Welt: wir helfen uns, teilen miteinander und lernen voneinander, wir achten dankbar die Natur."

Es freut mich, Sie für ein Interview auf "Buch, Kultur und Lifestyle" habe gewinnen können und dass Sie hier an dem Ethik-Langzeitprojekt "Interviews- Begegnungen mit Menschenfreunden im Netz" teilnehmen. 

Helga König: Was bedeutet Ihnen Fairness ? 
Dr. Gertrud Müller
Foto: Kai Schlander

Dr. Gertrud Müller:
Fairness bedeutet für mich eine Balance von Geben und Nehmen, im Austausch: jeder gibt was er/sie gern geben kann und erhält vom anderen das, was der/die andere gern geben mag, freiwillig und unkompliziert. 

Ich habe dazu Fairhandelsscheine entwickelt: https://survivalscales.de/sozialeintelligenz/ 

Helga König: Wie sollte nach ihrer Meinung das Helfen in Kriegsgebieten wie derzeit in der Ukraine ausschauen? 

Dr. Gertrud Müller: In meiner Vorlesung Schulpsychologie hatte ich dieses Semester zwei Friedenspädagoginnen als Gastdozentinnen eingeladen, die erfolgreiche Friedensprojekte mit geflüchteten ukrainischen Frauen und Kindern durchführen. Vor allem wird hier psychische Gesundheit geübt und gelernt um die negativen Lebenseinstellungen zu überwinden, die durch den Krieg entstanden sind. 

Was ich persönlich aus Gesprächen mit Ukrainerinnen und Russinnen gehört habe, leiden beide Bevölkerungsgruppen unter dem Krieg. Die russischen und ukrainischen Menschen waren oft vor dem Krieg befreundet, sind teilweise verwandt miteinander. Es ist sicher wichtig die wechselseitige Verhärtung durch die Kriegs-Feindseligkeit wieder aufzuweichen und zu erkennen, die Gegner sind auch Menschen, die ohne Krieg und in Ruhe und Frieden leben möchten. 

Meines Erachtens ist das erste und wichtigste Ziel Ruhe in die aufgeheizte Atmosphäre zu bringen: Anzustreben ist ein gegenseitiger Waffenstillstand, dass nicht noch mehr Leid geschieht. Nach einem Waffenstillstand können Verhandlungen aufgebaut werden. 

Aus der christlichen Geschichte, auf die sich beide Völker berufen, lernen wir, dass Auge um Auge/Zahn um Zahn nicht die Lösung sein kann. Die gemeinsamen christlichen Werte beider Kulturen könnten sinnstiftend zum Frieden beitragen 

Und es ist wichtig, dass Frauen mehr Einfluss gewinnen. Frauen können auf Männer mäßigenden Einfluss gewinnen. Männer sind leider durch die Evolution und die Jahrtausende der Kriegsgeschichte sehr an Gewalt gewöhnt und finden Gewalt teilweise als normal und vor allem als männlich. Das ist ein großes Problem im Krieg, weil damit die brutalsten Männer als die männlichsten und tapfersten gelten und die friedlicheren Männer kaum mehr mäßigend einwirken können. 

Zudem ist ein großes Problem, dass die Bevölkerung Krieg als Schicksal ansieht, auf das es keinen Einfluss hat. Es ist wichtig die wechselseitige Kriegspropaganda zu durchschauen und die wechselseitige Feindseligkeit so weit als möglich zu minimieren. 

Von dem buddhistischen Mönch Thich Nhat Hanh wird berichtet, dass er an der Kriegsfront spazieren ging. Die Leute sagten: "Der Mann ist verrückt, er geht an der Front spazieren."

Thich Nhat Hanh erwiderte gelassen: "Ich weiß nicht wer verrückter ist: Die Leute, die sich gegenseitig erschießen, oder ich, der spazieren geht."

Jürgen Drewermann meinte es sei eine Möglichkeit auch gegnerische Soldaten menschlich zu behandeln, ihnen Essen und Trinken zu geben, auch das kann dazu beitragen, dass sich die Feindseligkeit reduziert. 

Es gibt im Krieg sicher kein Patentrezept. Viele melden sich auch an Einsatzorte, an denen sie niemanden erschießen müssen (Sanitätsdienst, Küche, Reparatur) 

Soldaten haben auch selbst die Möglichkeit den Krieg zu sabotieren. Mir erzählten viele ehemalige Kriegsteilnehmer, dass sie bewusst danebengeschossen hätten, da sie es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten, andere zu töten. 

Helga König
Helga König: 
Sie haben am 3.1.23 folgenden Tweet verfasst: "Kapitalismus, Kommunismus, Oligarchien, Religionen, Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Börsen… sind im Machtspiel gefangen: Glorifizieren und bücken, belohnen und strafen, anhimmeln und degradieren. Kaum einer prüft wie viel Schaden diese Machtspiele anrichten." Weshalb wird Ihrer Meinung dieser Schaden nicht geprüft? 

Dr. Gertrud Müller: Machthierarchien und Kriege sind zu einer Kultur geworden. Kulturen werden von Menschen anerkannt, so auch die Kampf- und Kriegslogik. 

Kulturregeln sind wie Spielregeln, es gilt als Ehrensache sich daran zu halten, sonst wird man als Spielverderber ausgegrenzt, darf nicht mehr mitspielen. Diese Mechanismen werden schon als Kind erlernt und sind den Menschen deshalb relativ unbewusst. 

Es gibt ein so genanntes Kriegsrecht, das heißt, wenn jemand beim angeordneten Krieg nicht mitspielt, kann er sehr hart bestraft werden. Wer will das schon riskieren? 

Der Druck ist in der aktuellen Situation ist oft entscheidend fürs eigene Überleben. Der Schaden, so sagen Kriegsteilnehmer wird erst begutachtet, wenn der "Fog of war" vergangen ist, d.h. wenn sich der Nebel des Krieges gelichtet hat.

Menschen halten sich an die Macht- und Kriegsspielregeln, so wie sie sich an die Regeln halten bei Mühle, Dame, Schach und Monopoly. 

Helga König: Ebenfalls am 3.1.23 haben Sie geschrieben: "Nicht nur 2022, seit ich lebe, enttäuschen mich kranke Gesellschaften, das Unvermögen Verantwortung für Fehlentscheidungen zu übernehmen. Fehler werden in allen möglichen/unmöglichen Formen auf andere projiziert. Menschen manipulieren, zwingen, bekämpfen und töten sich gegenseitig." Wie könnten die Mitglieder kranker Gesellschaften von ihrem Narzissmus befreit werden, der ja offenbar Ursache für das von Ihnen formulierte Verhalten ist? 

Dr. Gertrud  Müller: Das ist eine sehr gute und zugleich schwierige Frage:  Menschen verhalten sich, so wie sie es gelernt haben. Haben sie von narzisstischen Vorbildern ein narzisstisches Verhalten gelernt, wird das kaum reflektiert. Der narzisstischen Person selbst ist ihr Verhalten vertraut und für sie selbst fühlt sich das narzisstische Verhalten normal an. Leider verfügen narzisstische Persönlichkeiten über wenig Empathie und können sich deshalb wenig in andere einfühlen; Sie sind jedoch interessiert und auch bereit Führungspositionen zu übernehmen und führen gern andere Personen. 

Die einfühlsameren und gefügigeren Personen folgen gern dem, was ihnen angeordnet wird und wehren sich selten gegen Vorschriften. 

So verfestigt sich in den meisten Gesellschaften eine relativ narzisstische Oberschicht und eine relativ unterwürfige Unterschicht. Beide sind mehr oder weniger in ihren Verhaltensmustern gefangen und können ihre wechselseitigen Macht- und Ohnmachtsspiele kaum durchschauen. 

2019 habe ich deshalb das Buch geschrieben "Machtspiele waren gestern" um diese Zusammenhänge zu erläutern und Menschen Mut zu machen, diese kranken Spiele zu erkennen und auszusteigen.

Helga König:  Am 30.12. 2022 schrieben Sie "Jedes Wissen hat ein Verfallsdatum; viele halten dennoch lieber an engen, altem und tradiertem Wissen fest. Das Leben bietet auch ganzheitliche und natürliche Lebensmöglichkeiten an mit zahlreichen Wirkungen und Relativitäten." Können dies bitte näher erläutern? 

Dr. Gertrud Müller: Vor ca. 100 Jahren galt der Aderlass als anerkannte medizinische Methode, obwohl auch viele Menschen gerade wegen dem Aderlass gestorben sind, wie wir heute wissen, Aderlass ist nur in wenigen Fällen eine geeignete Methode. 

Menschen neigen dazu Allheilmittel und Einheitslösungen zu suchen und zu finden, ein gewonnenes Wissen wird damit zu absoluten Realität erklärt. Eine Lösung für alles, das erscheint logisch und praktisch. 

Das Leben ist jedoch relativ und nicht absolut, das haben die meisten Menschen, auch viele Gelehrte immer noch nicht verstanden. In dem Glauben, dass ein gewonnenes Wissen immer Gültigkeit hat wird es wieder und wieder tradiert, obwohl es immer offensichtlicher wird, dass da etwas nicht stimmen kann. 

Nehmen Sie das Beispiel von Galileo, er entdeckte, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt, wie von der Kirche behauptet. Er entging nur knapp der Todesstrafe, weil er dieses Wissen veröffentlichte. 

Ignaz Semmelweis erkannte, dass Händewaschen der Ärzte vielen Frauen nach der Geburt das Leben retten kann, wegen der Übertragung von Krankheitserregern. Wie wurde er damals von den Kollegen angegriffen und verlacht, obwohl er Recht hatte.  

Wissen ist nicht absolut, wenn es in einigen Situationen zutrifft in anderen aber nicht. In diesen Fällen ist Wissen relativ. Wir müssten viel mehr tradiertes Wissen auf den Prüfstand stellen um uns als Menschheit weiter zu entwickeln. 

Helga König: Sie schreiben Frieden und Harmonie sind Naturgesetze. Wie begründen Sie dies? 

Dr. Gertrud Müller: Ich nenne Ihnen ein paar ganz einfache und anschauliche Beispiele: 

Schauen Sie Mutter und Kind an, bei Mensch und Tier. Kümmert sich die Mutter um ihr Kind überlebt es, kümmert sie sich nicht um ihr Kind und gibt es keine Stiefmutter stirbt das Kind. 

Die Natur lässt stärkere Formen des Parasitismus nicht zu, es sterben der Wirt und der Parasit. 

Wann sterben mehr Menschen und Tiere, in Friedens- oder in Kriegszeiten? 

Ich beobachte auch immer wieder, dass Menschen aus friedlichen Familien und Umgebungen gesünder sind. 

Helga König: Auch schreiben Sie: "Liebe und Zuversicht sind stärker als Macht, Kontrolle und Geldgier". Weshalb sind so viele gut ausgebildete Menschen dann primär an Macht, Kontrolle und Geldgier interessiert? 

Dr. Gertrud Müller: Wenn wir das einzelne Leben anschauen kann es sein, dass ein geldgieriger Soziopath länger lebt als ein liebevoller unterwürfiger Mensch. 

Beobachtet man jedoch ganze Generationen und Dynastien, so überleben liebevollere und zuversichtlichere Sippen, Familien und Gesellschaften länger, während Soziopathen kaum in der Lage sind für kommende Generationen zu sorgen. 

Das beste Beispiel für ein Zusammenlaben in Harmonie und Frieden sind Menschen, die in sogenannten "bluezones" leben und durch ihren liebevollen, zuversichtlichen und naturverbundenen Lebensstil gesund bleiben und uralt werden. 

Helga König: Sie schreiben zudem: "Wahre Macht ist nicht Macht über andere. Wahre Macht beherrscht sich selbst: die eigene Empfindlichkeit, die eigene Angst und Wut. Wahre Macht beobachtet Ziele & Wünsche, das Sprechen & Handeln, die eigene Größe & Schwäche, die eigene Lernfähigkeit, Fortschritte & Fehler,…"  Warum streben Ihrer Ansicht nach nicht nur Despoten das Gegenteil dessen an, was sie hier beschreiben, ist es Mangel an Erkenntnis? "

Dr. Gertrud Müller: Meiner Beobachtung nach handelt es sich bei Machtgier um kurzsichtiges Denken. Gerade in der Konsumgesellschaft, sollen Bedürfnisse sofort befriedigt werden. Lebt ein Mensch immer danach kurzfristige Befriedigung zu erhalten, ist er nicht mehr in der Lage langfristige Ziele zu fokussieren und anzustreben. 

Bei einem Zoom-Meeting erzählte uns der Blackfoot Indianer Pablo Camille Russell http://www.pablorussell.com/, dass sie in ihrer Kultur lernen Entscheidungen erst zu fällen, wenn sie sich sicher wären, dass diese Entscheidungen auch 7 Generationen nachher noch gut für ihre Nachkommen sind. 

Wer denkt heute in unserer Wirtschaft über das eigene Leben hinaus, in der Politik, über die nächste Legislaturperiode? Die Menschen, die so handeln können nichts dafür, auch sie haben es in unserer Kultur nicht anders gelernt. 

Wir können jedoch nach innen hören und spüren, die Natur beobachten und von anderen gerade von den indigenen Völkern sehr viel lernen. Die indigenen Völker können die Rhythmen der Natur noch hören, die Natur in ihrer Ganzheit wahrnehmen.

Helga König: Auch lassen Sie uns wissen: "Gesellschaftsführer sind verstrickt in Machtspiele, sie verstehen nicht wie sich Frieden ganz natürlich entwickeln kann. Sie glauben Frieden muss mit Kriegen erzwungen werden. Die Bürger glauben der Obrigkeit und deren Spuk und spielen das kranke Spiel mit." Was, wenn man Machtspiele offenlegt? 

Dr. Gertrud Müller:  Es geht darum zu erkennen, dass das Leben ein Spiel ist. Wir können ein Lieblingsspiel haben und das immer wieder spielen, oder wir können viel Spiele haben. 

Wichtig ist zu erkennen, dass wir Spiele mitspielen und beenden können und dass wir nicht mitspielen müssen, wenn uns das Spiel nicht gefällt oder schadet. 

Wir brauchen uns von niemanden Spielregeln diktieren lassen. Wenn wir das nicht erkennen sind wir im Machtspiel gefangen. 

Helga König: Welche Tugend ist Ihnen am wichtigsten und weshalb? 

Dr. Gertrud Müller: Carl Rogers, ein berühmter Professor für Psychotherapie des letzten Jahrhunderts, nannte 3 wichtige Faktoren wie Menschen gelingende Beziehungen aufbauen können:

Empathie, positive Wertschätzung und Echtheit. 

Nach meiner Erfahrung sind das die drei wichtigsten Faktoren um liebevolle Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. 

Ich möchte jedoch betonen, dass auch ich, obwohl ich viel in diesem Fach gelernt habe und mich beständig in Empathie, Wertschätzung und Echtheit übe, eine Lernende bin und bleiben werde. Die Lernmöglichkeiten sind im Gegensatz zum Wissen unendlich.


Liebe Gertrud Müller, ich danke Ihnen herzlich für das außerordentlich aufschlussreiche Gespräch.

Herzlich 
Ihre Helga König

https://blog-gertrud-mueller.de/

Helga König im Gespräch mit Wolf - Alexander von Wangenheim, Elektroingenieur und * Pazifist *.

Lieber Wolf - Alexander von Wangenheim, Sie lassen uns im Netz wissen, dass Sie Elektroingenieur, Pazifist, Träumer und Wald- Seeliebhaber sind. Auf Twitter hat man Gelegenheit, Ihre Geisteshaltung und Ihre Liebe zur Natur ein wenig kennenzulernen.

Es freut mich, Sie für ein Interview auf "Buch, Kultur und Lifestyle" habe gewinnen können und dass Sie hier an dem Ethik-Langzeitprojekt "Interviews- Begegnungen mit Menschenfreunden im Netz"  teilnehmen.

Helga König: Sie schreiben, dass Sie Pazifist sind. Kann es nach Ihrer Meinung einen Pazifismus mit Waffen geben? 

Wolf-Alexander von Wangenheim

Wolf - Alexander von Wangenheim:
Der Pazifismus braucht keine Waffen, um etwas zum Guten zu wenden.

Göttliche Regeln machen Waffen nicht notwendig.

Wenn jemand mit Herz, Geist und Verstand die Gebote GOTTES lebt, wird dadurch kein Schaden entstehen.

Mahatma Gandhi, Lida Gustava Heymann, Martin Luther King, Mutter Teresa usw. waren Pazifisten.

Diesem Anspruch werden die wenigsten gerecht.

Helga König

Helga König:
Was sind für Sie die Grundlagen friedlichen Zusammenlebens? 

Wolf - Alexander von Wangenheim: Erstens die 10 Gebote (Dekalog) bzw. die Grundregeln aus anderen Religionen. Zweitens mit sich selbst in den Frieden zu kommen. Hierzu empfehle ich das Buch des Dalai Lama: "Ethik ist wichtiger als Religion".

Helga König: Sie haben am 16. September nachstehenden Satz retweetet: "Es sind Wärme & Güte der Herzen, die Menschen Größe verleihen." Was hat Sie bei diesem Satz zu RT veranlasst?

Wolf - Alexander von Wangenheim: Ja, das war ein Tweet vom Dalai Lama ins Deutsche übersetzt. Unsere Vorbilder sind in der Regel Stars in Film und Sport, Millionäre, Milliardäre – also Menschen mit weltlicher Macht. Laut Werbung sollen wir hier in Europa abfahren auf Geld, Macht, Aktien, Yachten, Villen, teure Kleidung, Autos, Events, Fun, cooles Outfit, Medien, Computer, smarte Geräte, Partys und steile Karrieren.

Im Tweet vom Dalai Lama geht es um eine andere Sichtweise. Die inneren Werte stehen im Vordergrund und ihre Wirkung auf die Menschen. Jeder sollte sich selbst überlegen, was auf seinem spirituellen Weg wichtig ist. 

Helga König: Retweetet haben Sie am 5. September den Satz: "Das Meiden bestimmter Menschen zum Schutz deiner emotionalen Gesundheit ist keine Schwäche. Es ist Weisheit."   Mir selbst fallen in diesem Zusammenhang toxische Zeitgenossen ein. Ist es ethisch vertretbar, diese aus dem eigenen Leben auszuschließen?

Wolf - Alexander von Wangenheim: 

Ja!

Jeder kann nur innerhalb seiner eigenen Möglichkeiten agieren. Man sollte sich nicht überfordern – aus Liebe zu sich selbst. Schwierige Menschen am besten nicht bewerten, aber sich von ihnen mit Respekt verabschieden. Sie aus dem eigenen Geist entfernen, ist nicht einfach. Falls sie einen nur aufregen, weil sie ein unbewältigtes Thema von einem selbst triggern, wird ein anderer Zeitgenosse kommen und die Sache wird neu hochkommen. Toxische Menschen gibt es nicht, da das Toxische aus bestimmten Situationen heraus entsteht. So kommen wir beispielsweise im Urlaub mit vielen fremden Leuten freundschaftlich in Kontakt. Es gibt weniger Druck wie z. B. in Arbeitsverhältnissen. 

Helga König: Ist für Sie als Pazifist einen Tyrannenmord zu akzeptieren, wenn er offensichtlich die einzige Möglichkeit darstellt, ungezählte Menschenleben zu retten? 

Wolf - Alexander von Wangenheim: Hier sollten wir über die "Allmacht Gottes" nachdenken. Die Aktion und das Ergebnis, wie in Ihrer Frage beschrieben, halte ich für unrealistisch. Die Macht, auf diese Weise das Weltgeschehen zu beeinflussen, haben wir nicht. 

Helga König: Wie weit kann ein Mensch die Welt verändern? 

Wolf - Alexander von Wangenheim: Ich glaube, dass ein Gebet die Welt mehr verändern kann als eine Aktion in der 3D-Welt. Ein Mensch kann sich im Gegensatz zu einem Atom entscheiden. Wie und wann wir uns existenziell entscheiden oder ob aktuell ein fertiges Programm abläuft, wissen wir nicht. Wie dieses Programm entstanden ist und wie die Hardware dazu aussieht, weiß ich leider nicht. 

Eine vereinfachte IT (Informationstechnik) analog zu unserem Leben, kann ich berufsbedingt an Computersystemen erkennen. Es gibt Hardware, Betriebssysteme, Quellcodes, Compiler und Anwender. Den Menschen sehe ich hier zum Teil bei der Herstellung des Quellcodes und bei dem Anwender.

Noch ein Spruch zum Schluss: "Alles geschieht nach unseren Wünschen, aber nach Gottes Regeln."

Helga König: Was bedeutet Ihnen Gerechtigkeit? 

Wolf - Alexander von Wangenheim: Es gibt 1000 Vorstellungen von Gerechtigkeit und nur eine Gerechtigkeit im Himmel. Vielleicht ist auf der Welt die göttliche Gerechtigkeit bereits vorhanden. Wenn ich das glaube, so stellt dies bereits viele Vorstellungen und Meinungen auf den Kopf.

Die Bibelstellen Nehemia 9,33 und 1. Johannes 1,9 finde ich hier spannend:

"Du, unser Gott, bist gerecht bei allem, was über uns kommt; du hast die Treue bewahrt, wir haben uns schuldig gemacht."

"Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit."

Etwas Comedy nebenbei: Schiedsrichter beim Fußball sind natürlich immer gerecht. 

Helga König: Gibt es für Sie eine Lieblingstugend und falls ja, weshalb hat genau diese den höchsten Stellenwert bei Ihnen?

Wolf - Alexander von Wangenheim: Eine Lieblingstugend habe ich nicht, aber ich sage es mal mit 1. Korinther 12+13:

"Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich´s stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen." 

Helga König: Hat Wahrheit vielerlei Gesichter oder gibt es nur eine Wahrheit? 

Wolf - Alexander von Wangenheim: Menschliche Wahrheit hängt von dem Betrachter ab. Somit gibt es viele davon. Viele Menschen leben auch in mehreren Wahrheiten.

Gut anschaulich sehe ich dieses im Sport. Da gibt es Regeln, Schiedsrichter, Fans, Zuschauer, Sportler, Journalisten, Kritiker Trainer und ein Pfiff und danach viel Geschrei.

Helga König: Machen "Freund"-"Feind"-Betrachtungen Sinn oder sind sie kontraproduktiv, wenn man Frieden herstellen möchte? 

Wolf - Alexander von Wangenheim: Die Freund-Feind-Betrachtung liegt in unserer Natur. Sie ist nicht hilfreich für den Frieden, insbesondere wenn sie missverständlich und unpräzise ist. Im Alter sollte diese Betrachtungsweise abnehmen, was aber nicht immer einfach ist. So bewundere ich Menschen, die sich mit ihren Peinigern treffen und ihnen verzeihen. Beispiele aus dem Jugoslawienkrieg haben mich bewegt.

Bei den aktuellen politischen Diskussionen würde es schon was bringen, wenn wir in unseren Sätzen zwischen Land, Regierung, Parlament, einzelnen Personen, Bevölkerung und Teile der Bevölkerung unterscheiden.

So kann beispielsweise ein Land niemals Krieg beginnen. Es sind immer Menschen, denen das einfällt. Ein Land besteht auch aus Bergen, Flüssen, Tälern, Straßen und Wäldern.

Des Weiteren wird argumentiert, dass Deutschland ein reiches Land sei. Aber stimmt das wirklich? Es hat zwar eine gute Infrastruktur und ein gutes Bruttoinlandsprodukt, aber gleichzeitig auch hohe Schulden. Der materielle und finanzielle Reichtum ist bei der Bevölkerung sehr unterschiedlich.

Helga König: Sie schreiben "Ins Licht gehen ist immer eine gute Idee". Was bedeutet das für Sie im übertragenen Sinne? 

Wolf - Alexander von Wangenheim: Die Leser wollte ich zum Schmunzeln bringen.

Einfach selbst ausprobieren. Smile!

Lieber Wolf - Alexander von Wangenheim, ich danke Ihnen herzlich für das aufschlussreiche  Interview. 

Helga König


Wolf-Alexander von Wangenheim, sprachlich überarbeitet von C. Gorius.

Helga König im Gespräch mit der Sozialpsychologin und Germanistin Christiane Gorius M.A.

Die Sozialpsychologin und Germanistin Christiane Gorius M.A. hat sich auf Rhetorik-, Pilates- und Entspannungsseminare spezialisiert. Insgesamt hielt sie von 1995-2019 über 1300 Seminare innerhalb der betrieblichen Weiterbildung und der Erwachsenenbildung im Saarland und in der Bodenseeregion.

2010 erschien ihr Buch "Schmetterlingscoaching“, in dem sie die therapeutische Wirkung von Spielfilmen unter die Lupe nahm: Welche Wirkung haben Filme auf unsere Persönlichkeitsentwicklung?

In den nächsten Wochen erscheint ihr neustes Buch, das sich mit Transformation, Resilienz und den Farben der Seele beschäftigt.

Auf Twitter erlebt man sie als sehr engagierte Humanistin, deren Tweets stets zum Nachdenken anregen.
                                                                     ***
Liebe Christiane Gorius es freut mich, dass Sie an dem Ethik-Langzeitprojekt "Interviews- Begegnungen mit Menschenfreunden im Netz" des Onlinemagazins "Buch, Kultur und Lifestyle" teilnehmen.

Nun die Fragen:

Helga König: Wie äußert sich nach Ihrer Ansicht Mitmenschlichkeit in Zeiten von Corona?

 Christiane Gorius
Foto: privat
Christiane Gorius: Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen in ihrer Lebensführung vorsichtiger geworden sind. Die letzten Monate haben nicht nur zu einer "Hab-Acht-Haltung" gegenüber sich selbst, sondern auch gegenüber anderen geführt. Natürlich gibt es Ausnahmen. Die meisten Menschen realisieren jedoch, dass das Leben kostbar und zerbrechlich ist. Diese Tatsache verstärkt die Eigenverantwortung gegenüber dem Dasein. So gehen immer mehr Personen und Gruppen gegen strukturelle Ungerechtigkeit vor, was ich persönlich sehr begrüße.

 Helga König
Helga König: Was bedeutet Ihnen Fairness?

Christiane Gorius: "Fair play" ist ein Anliegen, das auf allen sozialen Ebenen Priorität haben muss. Schiller sagte: "Der Mensch ist nur dort Mensch, wo er spielt." In jedem Fußballspiel gibt es Regeln. Wenn wir als Kinder (ich habe 5 Geschwister) ein neues Gesellschaftsspiel bekamen, so hat einer von uns zunächst einmal die Spielregeln vorgelesen und genau erklärt. Das war Ausgangsbedingung, um gerecht miteinander spielen zu können. Das ist für mich Fairness in den kleinsten Dingen. Hier beginnt für mich der Gerechtigkeitsbegriff. Alle sitzen am runden Tisch und haben gleiche Ausgangsbedingungen. Das ist demokratisch und gleichzeitig sehr anstrengend.

Helga König: Sie haben am 9.6.2020 nachstehenden Tweet gepostet: 
"Der Hass lähmt das Leben; die Liebe lässt es frei. Der Hass verwirrt das Leben, die Liebe bringt es in Einklang. Der Hass verdunkelt das Leben, die Liebe erhellt es." Martin Luther King 
Was war Ihr Motiv, diesen Tweet zu verfassen? 

Christiane Gorius: Wenn ich hasse, tue ich mir selbst weh. Genau das war mein Motiv für den Tweet. Im Netz finde ich Hass und Liebe. Beides. Ich höre von Leuten, die den sozialen Medien negativ gegenüber eingestellt sind. Sie meinen, dass auf Social Media vor allem polarisiert, gefaked und angegriffen wird. Übrigens hatte ich bevor ich mich für Twitter entschied, selbst diese Vorurteile gehegt. Twitter und die anderen Medien sind nur so gut, wie wir sie selbst machen! Sie spiegeln die menschliche Seele und ihre Abgründe wider. Damit müssen wir umgehen lernen. Dafür brauchen wir Spielregeln. 

Hass zieht energetisch runter. Er erzeugt eine emotionale Abwärtsspirale negativer Gefühle, die selbstzerstörerisch ist. Hass kann depressiv machen. Hass konfrontiert mit der eigenen "Schwarzgalligkeit! Ist übrigens ein wichtiges Thema meines neuen Buches."Schwarzgalligkeit" ist ein sehr alter Begriff für Depression. Negative Gedanken führen zu innerem Groll. Dieser Groll belastet nicht nur Galle und Leber. Er schlägt auf den ganzen Organismus! Das Beste Mittel gegen Hass ist nach wie vor Liebe. Aber dieses innere Umschalten vom einen Gefühl zum anderen, ist verdammt schwer. Ohne Mitgefühl hat die Menschheitsfamilie keine Chance, um zu überleben. Martin Luther King wurde ermordet, weil er ein Dorn im Auge derer war, die blind vor Hass waren.

Helga König: Sie setzen sich auf Twitter immer wieder für ein „Bedingungsloses Grundeinkommen“ ein. Was könnte das BGE nach ihrer Ansicht bewirken? 

Christiane Gorius: Das #BGE könnte gerechtere Ausgangsbedingungen für alle schaffen. Die Kluft zwischen Arm und Reich hat in den letzten Jahren massiv zugenommen. Die soziale Schieflage wird verstärkt, wenn wir alles so weiterlaufen lassen. Die wenigen Reichen werden im neoliberalistischen Gesellschaftsspiel immer reicher. Wenn ich jedoch jedem 1.200 Euro im Monat gebe, verbessert sich grundsätzlich seine Lebensqualität, was wiederum Auswirkungen hätte auf unser Gesundheitssystem. Das #BGE gibt jedem Menschen seine Würde wieder, denn jeder Mensch ist grundsätzlich wertvoll. Jeder Mensch könnte "fair play" genießen und dadurch viel mehr seinen freien Willen einsetzen in Sachen Jobwahl. Das größte Geschenk, das jeder Mensch besitzt, ist seine persönliche Gabe. Wenn er diese Aufgabe zur Welt bringt zum Wohle aller, wird er nicht nur sich selbst, sondern auch andere zufriedener machen. 

Helga König: Sie schreiben: "Resilienzkompetenz entwickelt sich zwar in der Kindheit, aber kann in jedem Alter erlernt und ausgebaut werden. Es kommt auf die Offenheit des Einzelnen an. Es ist nie zu spät, um gesund zu werden..." Können Sie unseren Lesern Ihren Gedanken näher erläutern und eventuell auch mitteilen, weshalb Resilienz zentral für ein gutes Zusammenleben ist? 

Christiane Gorius: Resilienz bedeutet, dass ich bereits in meiner Kindheit Widerstandskräfte entwickele, um psychisch, physisch und geistig gesund durchs Leben zu gehen. Von der Neuropsychologie wissen wir, dass die Verdrahtungen und Verschaltungen in unserem Gehirn, also seine Neuroplastizität, durchaus veränderbar ist. Genau das ist der Hoffnungsschimmer! Selbst als betagter Mensch kann ich mich weiterhin ändern. Zum Guten hin wie zum Schlechten. Das schlimmste Denkmuster ist für mich: "Schuster bleib bei deinen Leisten." Solche Glaubenssätze zerstören permanent Menschen. Evolution basiert auf Transformation und Wandlungsfähigkeit. Wer Hass umwandeln will in Liebe, muss Resilienz gelernt haben. Resilienz bedeutet, dass ich meine innersten Ressourcen wachrüttele und dafür sorge, dass sie mich durchs Leben tragen. Das ist unser Selbstwerttresor. Dort wo mein Schatten ist, liegt auch meine Kraft. 

Ich selbst beispielsweise leide an Skoliose (Beindifferenz) und muss deswegen täglich Gymnastik machen. Mit Zwanzig bin ich aufgrund dieser Tatsache am damaligen Saarländischen Landestheater während einer Vorstellung vor Rückenschmerzen zusammengebrochen. Mir war also früh klar, dass ich meine Rückenschmerzen ernst nehmen muss und täglich trainieren muss. Zehn Jahre später machte ich mich schließlich selbständig als Pilatestrainerin. Ich wollte das an die Welt weitergeben, was mich selbst heilt. Das ist das beste Selbstheilungsmittel. Zu meinen KurskundInnen gehören auch Leute, die über Achtzig sind. Pilates kann man immer lernen. Resilienz ist die seelische Kraft, die einen Fluch in Segen verwandeln lässt. 

Helga König: Wie unterscheidet sich Selbstliebe von Narzissmus und weshalb ist Selbstliebe mit Nächstenliebe vereinbar? 

Christiane Gorius: Selbstliebe speist sich aus Selbsterkenntnis, Selbstakzeptanz, Selbstfürsorge und Selbstverantwortung. Ich muss mich radikal mit mir selbst und meinen seelischen Abgründen konfrontieren. Das tut weh. Da schwappt auch Scheiße hoch. All das gehört zu mir. Auch meine Albträume. Selbstliebe ist der Stoff meines Nervenkostüms. Er ist nicht nur toll, sondern kann stinken. 

Narzissmus hingegen grenzt aus. Er blendet bewusst all das aus, was an meinem Ego knabbert. All das Kranke, Hässliche und Unangenehme wird nach Außen projektiert. Narzissmus sucht einen passenden Sündenbock. Er ist anfällig für Hass, Rassismus und Faschismus. 

Selbstliebe aber bedeutet, dass man sich annimmt, so wie man ist. Selbstliebe ist die Urform der Liebe. Denn jeder Mensch wird geliebt, wenn er sich selbst liebt (Resonanzgesetz). Wenn ich mich selbst liebe, werde ich also auch fähig, andere zu lieben. Leute, die sich selbst nicht lieben, kaufe ich die Empathie nicht ab. 

Helga König: Sie schreiben: "Die einen Menschen sind für uns die Hölle, die anderen sind das Paradies..." Wann wird ein Mensch für Sie zur Hölle? 

Christiane Gorius: Gute Frage! Ein Mensch, der mich einengt in meinen Grundrechten, macht mir das Leben zur Hölle. Ein Mensch, der mich meines freien Willens beraubt, sorgt garantiert dafür, dass ich ihn hassen muss. Wenn ich hasse, komme ich in einen Teufelskreis, denn letztlich hasse ich mich dann auch selbst. Wenn ich hasse, kann ich theoretisch zur Furie werden. Wenn ich Furie bin, will ich zerstören. Ich will draufhauen! Ich bin also nicht mehr in meiner inneren Mitte. Ich kann Hass nachempfinden, da ich als Schauspielschülerin in Hamburg auch Rollen von Mörderinnen einstudierte. Ich kann das nachempfinden. Ich bin sehr impulsiv. Gerade deswegen brauche ich jeden Tag Dinge, die mir gut tun und etwas Ruhe, um mich zu entspannen. Höllisch sind für mich also Menschen, die aus mir schlimmstenfalls eine Mörderin machen könnten.

Helga König: Sie haben meinen kürzlich verfassten Tweet "und im Übrigen bin ich der Ansicht, dass man #Julian_Assange endlich aus der Haft entlassen sollte" retweetet. Wofür steht Julian Assange Ihrer Ansicht nach? 

Christiane Gorius: Julian Assange hat das für uns ans Tageslicht gebracht, was weltweit gen Himmel stinkt. Er hat hervorragenden Journalismus gemacht. Die wichtigsten Medienhäuser der Welt waren an seiner Arbeit so lange interessiert, wie er ihr Goldesel war. Man hat von ihm glänzend profitiert! Als die USA ihn jedoch zum Staatsfeind erklärten, ließ man ihn eiskalt fallen. Der Fall zeigt, dass wir es leider auch mit einem moralischen Verfall gewisser Medien zu tun haben. Julian Assange sollte unbedingt entlassen werden! 

Helga König: Was bedeuten Ihnen die sozialen Netzwerke und was könnte hier verbessert werden? 

Christiane Gorius: Wie bereits oben erwähnt. Wir brauchen ethische Regeln innerhalb der sozialen Medien. Ich erlebe neben sehr erfreulichen Tweets leider auch Cybermobbing. Wenn es die Blocktaste nicht gäbe, wäre ich schon lange nicht mehr auf Twitter. Trotzdem sehe ich in den sozialen Netzwerken eine demokratische Ressource von großem Wert. Jeder kann zum Sender werden, wenn er es möchte. Ich gebe hier zu, dass ich eine Anhängerin von Klarnamen und echten Personenfotos bin. Das habe ich mal offen gepostet und bekam glatt einen Shitstorm. Es gab Leute, die mir schrieben, dass sie die Anonymität brauchen, um sich sozial zu schützen. Verstehe ich nur teilweise. Kann es nicht einen Zusammenhang geben zwischen Anonymität und Hass-Tweets? Ich nehme die Klarnamen ernster als die Katzenfotos. Mein gutes Recht, denn ich bekenne schließlich auch Farbe. 

Helga König:  Wie äußert sich Gleichgültigkeit von Mensch zu Mensch Ihrer Beobachtung nach im Hier und Jetzt am häufigsten? 

Christiane Gorius: Gleichgültigkeit ist eine Vorform des Konformismus. Wenn alles egal ist, entsteht ein Vakuum, dass von politischen Kräften genutzt werden kann, die ein Interesse am Ende der Demokratie haben. Der Konformismus ist immer ein idealer Nährboden für Nazis. Von Willi Graf habe ich gelernt, dass jeder Einzelne immer die ganze Verantwortung trägt. Wenn ich jedoch gleichgültig bin, so räume ich dem Guten und dem Bösen gleiche Chancen ein. Deswegen ist das Böse so banal (siehe Hannah Arendt). Für das Gute lohnt es sich jederzeit und überall, Farbe zu bekennen. Ich schließe mit Mark Aurel: "Die Seele hat die Farbe deiner Gedanken."  

Liebe Christiane Gorius, besten Dank für das aufschlussreiche Gespräch.

Herzlich Helga König

Anbei  der Link zur  Homepage von Christiane Gorius: http://www.chrigorius.de/

Helga König im Gespräch mit #Christine_Neumeyer, Autorin von historischen Romanen und Krimis und Leiterin der Region Österreich des Netzwerks krimiliebender Frauen (Mörderische Schwestern).

#Christine_ Neumeyer ist Autorin von historischen Romanen und Krimis und Leiterin der Region Österreich des Netzwerks krimiliebender Frauen (Mörderische Schwestern). In den sozialen Netzwerken dokumentiert sie seit Jahren ihre menschenfreundliche Persönlichkeit. 

Liebe Christine Neumeyer, es freut mich, dass Sie an dem Ethik-Langzeitprojekt "Interviews- Begegnungen mit Menschenfreunden im Netz" des Onlinemagazins "Buch, Kultur und Lifestyle" teilnehmen.

Helga König: Was bedeutet Ihnen Mitmenschlichkeit? 

Christine Neumeyer
Foto: Ilse Haberleitner
Christine Neumeyer: Der Gedanke, dass alle Menschen auf dieser Erde in irgendeiner Weise miteinander verbunden sind. 

Helga König: Welche Rolle spielt Fairness in Ihrem Leben?

Christine Neumeyer: Fairness ist eine Frage der Haltung. Es spielt eine große Rolle im Umgang mit anderen. 

Helga König: Wie äußert sich ein faires Miteinander in Ihrem Netzwerk krimiliebender Frauen? 

Christine Neumeyer: Kennen Sie die Begriffe Stutenneid und Zickenkrieg? Gerne insb. von Männern gebraucht, wenn Frauen in Konkurrenz zueinander – oft um die Gunst eines Mannes – treten. Es sind schreckliche Begriffe. Sie stehen für das traditionelle Geschlechterbild und für Macht und Hierarchie. Die Gegenwart und Zukunft von Frauen sollte von Solidarität geprägt sein. Dafür stehen wir. 

 Helga König
Helga König: Sie schreiben seit 2012 auf Twitter. Hat sich das Verhalten der User seither sehr verändert und falls ja wie äußert sich dies? 

Christine Neumeyer: Ich bin seit etwa zwei bis drei Jahren verstärkt auf Twitter unterwegs. Früher habe ich Facebook bevorzugt. Aber dort wird mittlerweile viel getratscht. Auf Twitter finde ich mehr Information, weniger Tratsch. Ansonsten bemerke ich nicht, dass sich das Verhalten der User verändert hätte. 

Helga König: Wurden Sie als Autorin im Netz schon mal von Mobbern belästigt und falls ja wie haben Sie reagiert? 

 Christine Neumeyer
Foto: Ilse Haberleitner
Christine Neumeyer: Nicht bei Twitter. Bei Facebook kamen nach politischen Äußerungen manchmal höhnische oder respektlose Kommentare. Da ist es schon vorgekommen, dass ich die eine oder andere Person blockiert habe. Gemobbt habe ich mich nie gefühlt. Dazu möchte ich anmerken, dass soziale Medien Kammern oder Blasen von Gleichgesinnten bilden. Soziale Medien ersetzen keine objektive Medieninformation, welche notwendig ist, um den Blick für die Gesamtheit einer Gesellschaft nicht zu verlieren. 

 Helga König
Helga König: Sie verlinken immer wieder auch Medien-Beiträge, die sich mit dem Klimawandel befassen. Ist es Ihnen ein Anliegen auf diese Weise zur Aufklärung beizutragen oder was motiviert Sie ansonsten dazu? 

Christine Neumeyer: Klimawandel ist ein globales Thema, das uns alle betrifft. Ich mache mir Sorgen um unsere Erde, um alle Lebewesen. Ja, es ist mir ein Anliegen, ab und zu darauf hinzuweisen. 

Helga König: "Die schlimmste Art der Ungerechtigkeit ist die vorgespielte Gerechtigkeit." Platon (427 - um 348 v. Chr.). Was haben Sie zu diesem Satz zu sagen? 

 Christine Neumeyer
Foto: Ilse Haberleitner
Christine Neumeyer:  Zu diesem Satz von Platon fällt mir die Diskussion zu den Fluchtbewegungen nach Europa ein. Die eine Seite sieht das menschliche Leid, zeigt Interesse und will helfen. Die andere Seite versucht möglichst nicht mit flüchtenden Menschen und deren Unglück in Berührung zu kommen. Diese Menschen versuchen ihre Ablehnung und ihr Desinteresse an den Geschichten der zur Flucht gezwungenen Menschen mit Argumenten zu erklären, ohne dabei unmenschlich oder ungerecht zu erscheinen. Sie sehen sich als Opfer, fühlen sich in ihrem Frieden bedroht. Dabei vergessen sie, dass auch in ihrem Land nicht immer Frieden herrschte und Menschen zur Flucht gezwungen wurden. Dann fällt mir die Klimakrise ein. Europa sieht sich als moralische Instanz. Doch würden Kontinente, wie Afrika ebenso stark wie Europa die natürlichen Ressourcen verbrauchen, wäre es um das Weltklima noch viel schlechter gestellt. 

 Helga König
Helga König: Welchen ethischen Auftrag hat ein Krimischriftsteller (m/w)? 

Christine Neumeyer: Ein Krimischriftsteller (m/w) hat in erster Linie den Auftrag, Leser (m/w) spannend zu unterhalten. Darüber hinaus hat jeder Schriftsteller (m/w) die Möglichkeit, die Gesellschaft widerzuspiegeln. Mit guten Texten kann man subtil Gesellschaftskritik üben, ohne belehrend zu wirken. Das ist eine alte Geschichte. 

Helga König: Können Sie unseren Lesern Ihre Lieblingstugend nennen und begründen, weshalb sie diese Tugend besonders schätzen? 

 Christine Neumeyer
Foto: Ilse Haberleitner
Christine Neumeyer: Das Wohlwollen: Es steht für Freundlichkeit, Güte, Unterstützung. Tugenden, welche wir krimiliebenden Frauen besonders hochhalten. 

Helga König: "Wo Gemeinschaft herrscht, da herrscht auch Erfolg." (Publilius Syrus)  Würden Sie diesen Satz bejahen im Hinblick auf ein Autorenleben oder sind Autoren eher Einzelkämpfer für Ihren Erfolg? 

Christine Neumeyer: Das Schreiben und das Lesen begleiten und fördern die Entwicklung von Persönlichkeiten. Das Schreiben und das Lesen sind aber auch sehr einsame Tätigkeiten. Deshalb sind Gemeinschaften sehr wichtig. Im Fall der krimiliebenden Frauen, der Mörderischen Schwestern, stärkt die Gemeinschaft jede einzelne von uns. Seit 2017 habe ich in meiner Funktion der "Oberschwester für die Region Österreich" mit der Gruppe zahlreiche Projekte durchgeführt. Das Spektrum reicht von gemeinsamen Lesungen und Publikationen, Fortbildungsmaßnahmen, Theaterproduktionen, Benefizveranstaltungen, Geocaching, bis zur Lese/Schreib-Förderung an einer Wiener Brennpunktschule. Ja, wo Gemeinschaft herrscht, da herrscht auch Erfolg.

Liebe Christine Neumeyer, ich danke Ihnen herzlich für das aufschlussreiche Gespräch.

Ihre Helga König

Homepage von Christine Neumeyer: https://homepage.univie.ac.at/christine.neumeyer/Autorenhomepage/


Helga König im Gespräch mit Prof. Rahman Jamal, Business and Technology Fellow

Lieber Prof. Rahman Jamal, Sie sind in Burma geboren, in Paderborn aufgewachsen, haben dort auch Elektrotechnik studiert und leben nun in München und Paderborn. Sie sind Diplom-Ingenieur, haben jahrelang das globale Marketing einer weltweit agierenden Firma geleitet und sind heute dort als Business and Technology Fellow tätig. Da Sie in den sozialen Netzwerken aktiv sind und dort in so manchem Tweet erkennen lassen, dass Sie ein großer Menschenfreund sind, möchte ich heute einige Fragen an Sie richten. 

Helga König: Was bedeutet für Sie ein sinnstiftendes Miteinander in unserer Gesellschaft? 

Prof. Rahman Jamal
Foto: privat
Prof. Rahman Jamal: Steigen wir doch gleich mit der Sinnfrage ein: Für mich ist der Sinn des Lebens das Leben selbst – und zwar ein Zusammenleben mit anderen und der Natur. Mir ist hier aber sehr bewusst, dass jeder sich mit etwas anderem identifiziert, und dass es hier Überlappungen mit anderen Menschen gibt. Einige unserer Identitäten teilen wir vielleicht mit der einen Gruppe von Leuten, andere Identitäten wiederum mit anderen. Aber für mich ist Diversität ein Geschenk und eine Stärke, die wir pflegen und respektieren sollten. Aber wir müssen uns durchaus darüber im Klaren sein, dass das Leben mit Diversität ein herausfordernder Prozess ist. 

Zu glauben, im Pluralismus zu leben sei leicht, wäre falsch. Pluralismus ist eine ewige "work in progress", d. h. ein nie abgeschlossener Prozess, an dem wir alle beteiligt sind. Auch wenn viele annehmen, dass wir so unterschiedlich sind, gibt es auf einer fundamentalen Ebene weitaus mehr Gemeinsamkeiten, was erst auf den zweiten Blick deutlich wird. Denn, bevor ich Dieses oder Jenes bin, also bevor ich ein Ingenieur bin oder ein Buddhist oder etwas anderes, bin ich. Punkt. Und das Sein ist das, was uns alle verbindet, jenseits von Religionen, Kulturen, Überzeugungen, Ideologien usw. Integraler Bestandteil dieses Seins sind nichtphänomenale Eigenschaften wie bedingungslose Liebe, Mitgefühl, Schönheit, Friede, Achtsamkeit etc. Dies in uns (wieder) zu entdecken und in unserem Handeln widerzuspiegeln ist, worum es eigentlich im Leben geht. 

Wie Sie meinen Tweets auch entnehmen können, vertrete ich keine spezifische religiöse Sichtweise, sondern appelliere genau an das Gemeinsame aller, an gemeinsame Werte, denn ich glaube an eine der Religion und Kultur übergeordnete Dimension, die uns an einen Tisch bringt und auch einen besseren Umgang miteinander ermöglicht. Dieses Gemeinsame zu sehen und uns daran zu orientieren und eben nicht uns gegenseitig unsere Religionen und Kulturen aufzudrängen, ermöglicht erst ein sinnstiftendes Miteinander. 

Was die Umsetzung eines sinnstiftenden Miteinanders anbelangt, so bin ich absolut davon überzeugt, dass es uns eine innere Zufriedenheit gibt, wenn wir auf ein Ziel hinarbeiten, das die Gesellschaft voranbringt, wesentlich größer als wir selbst und erheblich mehr als die Summe der Einzelteile ist. Hier sei beispielsweise die Bewältigung der größten Herausforderungen der Menschheit genannt, wie sie etwa in den "grand challenges" der National Academy of Engineering zusammengefasst sind, und die auch National Instruments, die Firma, bei der ich arbeite, antreibt. Dazu gehören etwa der Zugang zum Trinkwasser für jeden Menschen auf der Welt, bessere medizinische Versorgung und die Erschwinglichkeit von Solarenergie. Durch solche Tätigkeiten hinterlassen wir die Welt in einem besseren Zustand als den, in dem wir sie vorgefunden haben. Und durch solch sinngebende Arbeit spüren wir eine einzigartige Verbundenheit zu etwas Übergeordnetem und sind dennoch völlig eins mit unserem wahren Selbst. 

 Helga König
Helga König: Wie wichtig ist Fairness, damit das Leben vieler erfolgreich verlaufen kann?

Prof. Rahman Jamal: Fairness ist meines Erachtens unabdingbar für ein erfolgreiches Miteinander. Das war im Übrigen auch der Grund dafür, dass ich den Beruf des Ingenieurs ergriffen habe: Ich wollte dazu beitragen, dass alle Menschen gerecht behandelt werden und die gleichen Chancen haben. Ich war von den unglaublichen technologischen Fortschritten inspiriert, die unseren Alltag verbessern. Ursprünglich aus einem Entwicklungsland, kam ich mit zehn Jahren nach Deutschland und war sehr überrascht über die Diskrepanz zwischen den Ländern. Ich sah, dass die Bevölkerung in einigen Staaten keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung hat, während all dies hierzulande als selbstverständlich angesehen wird. Daher entschied ich mich bewusst nicht für ein theoretisch-wissenschaftliches, sondern ein praxisnahes Studium, mit dem man zur Lösung solcher Probleme beitragen kann: Elektrotechnik. 

Ich bin fest davon überzeugt, dass es die achtsam eingesetzten Technologien sind, die Änderungen vorantreiben und die zwischen den Ländern klaffenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lücken schmälern können. Natürlich sind Ingenieure zwar auch Teil des Problems, weil sie oft nicht über die Konsequenzen ihres Handels nachdenken in puncto Nachhaltigkeit, Energieverbrauch etc. Aber sie sind es auch gleichzeitig, die mit dem richtigen Mindset dazu beitragen können, die größten gesellschaftlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen. Der Ingenieur muss dazu meiner Ansicht nach hinterfragen, ob seine Arbeit der Menschheit nützt. Er muss sich darüber im Klaren sein, welche Auswirkungen seine Entwicklung auf die Gesellschaft hat. Zudem ist er dazu angehalten, dem Recht der Menschen und der Natur Vorrang gegenüber etwaigen privaten oder Firmeninteressen einzuräumen. Meine Vision ist, dass eine der grundlegenden Eigenschaften des Ingenieurs von morgen eine humanistische Einstellung ist. 

Helga König: Sind Achtsamkeit, Demut, Bescheidenheit Tugenden, die vielen Menschen der westlichen Welt nur schwer zugänglich zu machen sind und falls ja, weshalb?

 Prof. Rahman Jamal
Foto: privat
Prof. Rahman Jamal:  Als jemand, der in beiden Kulturen zu Hause ist, muss ich das eher verneinen. Ich glaube, dass es allen so geht, unabhängig von ihrer Herkunft – auch wenn man landläufig der Meinung ist, die Menschen aus Fernost seien aufgrund ihrer Kultur besser für eine achtsame Haltung gewappnet. Ich glaube in der Tat, dass viele Menschen – ob westlicher oder fernöstlicher Kultur – Achtsamkeit und Meditation "betreiben", um ein bestimmtes Ziel zu verfolgen. Das ist ja mittlerweile ein großer Modetrend geworden. Egal, aus welchem Kulturkreis, alle versuchen, achtsam zu sein, um nicht alles so nah an sich herankommen zu lassen und erfolgreicher in ihrem Tun zu sein. Oder sie meditieren, um entspannter zu werden. Auch, wenn ich das gutheiße, ist es dennoch nur die halbe Miete. Sich ein Ziel zu setzen, ist genau der falsche Ansatz, sowohl was die achtsame Haltung anbelangt, also auch die Meditation, die oft damit verbunden ist. Das Problem in der Meditation ist nämlich nicht die Meditation, sondern der Meditierende, der etwas haben möchte! Kurzzeitige Entspannung und Gelassenheit können natürlich sehr wohl Nebeneffekte sein, aber sie sind eben kurzlebig. 

 Helga König
Helga König: Können aufrichtige Bescheidenheit und Demut den Menschen vor Hybris schützen und verantwortungsbewusster machen?

Prof. Rahman Jamal: Diese Frage stellt sich für mich gar nicht. Denn da sind wir zum einen wieder an dem Punkt, an dem ich etwas möchte – ich möchte z. B. nicht hochmütig sein, sondern bescheiden und demütig. Das ist einfach der falsche Ansatz. Zum anderen sind Dinge wie Bescheidenheit, Demut, Achtsamkeit usw. nichtphänomenale Eigenschaften, die man nicht erlernen kann, sondern die bereits in uns vorhanden sind und wiederentdeckt werden müssen. Um dies besser zu verstehen, gehen wir zuerst einmal einen Schritt zurück: Bevor ich Dieses oder Jenes bin, bin ich wie erwähnt erst einmal, es geht also um das Sein. Wenn man dieses Sein genauer untersucht, stellt man fest, dass es präsent ist, erfahrend, nicht lokalisierbar, nicht innerhalb der Zeit. Die populäre Annahme ist ja, dass wir geboren wurden, uns weiterentwickeln und dann irgendwann dann die Welt verlassen. Und wir meinen auch, das genau so zu erfahren: Wir sehen von außen, dass es bei den anderen exakt so abläuft. Aber ist das denn auch unserer unmittelbare Erfahrung? Nein! Denn diese Abgrenzung ist etwas, das wir erlernt haben. Aus meiner Sicht ist dies ein konditioniertes Verhalten. Das liegt schlichtweg an den Werkzeugen, die wir nutzen, allen voran die Sprache. 

Sprache ist zunächst für eine Welt der Dualität geschaffen. Uns wurde beigebracht, wie wir mit dieser Sprache unsere Erfahrungen abbilden können. Formulierungen wie bspw. "ich bin hier" und "die Natur ist dort" sind aus meiner Sicht keine unmittelbare Erfahrung, sondern eine mittels der Sprache und des Denkens wiedergegebene Abstrahierung, die die eigentliche Erfahrung in ein Korsett aus Subjekt, Prädikat und Objekt hineinpresst. Und irgendwann fangen wir auch noch an, die Welt durch die Brille der Sprache und des Denkens zu sehen – und glauben auch noch, dass das unsere tatsächliche Erfahrung ist. Dass wir hier eine Brille aufgesetzt haben, übersehen wir irgendwann einmal. 

Die dualistische Struktur, die die Sprache aufbaut, nämlich die von einem Sender von z. B. Mitgefühl und dem Empfänger, ist für mich sehr fragwürdig. Denn durch die Unterteilung in Subjekt und Objekt suggerieren uns unsere Werkzeuge die ganze Zeit, dass es eine Trennung zwischen den beiden gibt. Stellen Sie sich die Welt oder das Bewusstsein als Ozean vor, auf dem wir alle als Wellen erscheinen. Es mag knapp 8 Milliarden Wellen auf diesem Ozean geben, denen wir allen einen Namen geben, die bestimmte Eigenschaften haben, etc. Aber dennoch sind sie immer eine Bewegung des Ozeans. Stellen Sie sich mal vor, wenn eine bestimmte Welle auf die Idee käme, den Ozean zu suchen, was würde sie dann finden? Nichts! Denn sie war zu keinem Zeitpunkt etwas nichts anderes als der Ozean selbst! Und so haben wir eventuell auch erlernt, dass wir etwas Besseres, Schöneres, Größeres sind. Das heißt, so tauchen Dinge wie Hybris überhaupt erst auf! 

Die durch unser Denken und unsere Sprache schön in getrennte, unabhängig voneinander existierende Einheiten eingeteilte Welt gibt es in meiner unmittelbaren Erfahrung aber nicht. 

Helga König: In einem Interview, das ich gelesen habe, sagen Sie "Wer achtsam ist, dem fällt es ohnehin leichter, sich auf eine natürliche Weise auf den Anderen einzulassen." Können Sie dies näher erläutern?

 Prof. Rahman Jamal
Foto: privat
Prof. Rahman Jamal: Wenn nichtphänomenale Eigenschaften wie Achtsamkeit oder Mitgefühl völlig störungsfrei aus einem herausströmen, ist der Umgang mit den Menschen und der Natur weitgehend leidensfrei. Dann geht man aus einer ganz natürlichen Empathie heraus auf die Menschen zu und begegnet ihnen unvoreingenommen und mit Mitgefühl. Das ermöglicht es, sich eben auf den Anderen einzulassen, ihn und seine Bedürfnisse zu verstehen. 

Helga König: Sie sagen, dass für Ihren Führungsstil Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, gepaart mit mitfühlendem Handeln eine zentrale Bedeutung haben. Welche Resonanz zeigen Ihre Gegenüber, wenn Sie auf diese Weise mit Ihnen umgehen, ist das Feedback immer positiv?

Prof. Rahman Jamal: Nein, das ist ganz unterschiedlich und kommt darauf an, wer mich mit welcher Geisteshaltung betrachtet. Ein Taktiker aus dem Arbeitsleben, vor allem einer in der Führungsetage, glaubt sicher, dass mein Verhalten eine von mir zurechtgelegte Strategie ist, um etwas Bestimmtes zu erreichen. Ein solcher Mensch würde mit mir anders taktieren, als jemand, der im achtsamen Handeln eine Lebensphilosophie sieht. Jeder reagiert nach seinem Wissenstand, seiner Erfahrung und seinem Bezug zu seinem Leben. Daran kann ich nichts ändern. Aber wenn ich ehrlich bin, ist dies für mich auch sekundär, wie die anderen reagieren. 

Viele finden meine Einstellung interessant und erklären sie sich damit, dass ich aus einem östlichen Kulturkreis komme und dass mir solche Dinge quasi in die Wiege gelegt wurden. Das ist zwar eine nette Erklärung, die ich aber nicht akzeptieren kann, denn – wie eingangs erwähnt – bringen wir alle diese nichtphänomenalen Eigenschaften von vorneherein mit. Dann wiederum gibt es Menschen, die mehr dazu wissen möchten und sich aus dem Herzen heraus mit diesen Themen beschäftigen. Einige sagen mir, die Umstellung auf achtsames Handeln hätte ihr Leben verändert. Es ist aber auch schon passiert, dass Leute erst Jahre später auf mich zukamen und mir sagten: "Jetzt verstehe ich erst, was du damals meintest!" Und dann erst mehr wissen möchten. Meistens dann, wenn sie gerade in einer Lebenskrise sind. Dann ist das Fenster offener und die Menschen sind empfänglicher für neue Impulse.

Helga König
Helga König: Sie schreiben in einem Ihrer Tweets "This may sound a bit harsh, but being proud of all the acquired material objects of this world is like a prisoner being proud of his jail". Was möchten Sie Ihren Lesern dadurch nahebringen?

Prof.  Rahman Jamal: Da geht es genau um die Anhaftungen, das "Haben-Wollen“, das ich bereits erwähnte. Die meisten erwarten etwas aus bestimmten Situationen oder schöpfen ihre Zufriedenheit aus der materiellen Anschaffung. Beidem liegt der Wunsch zugrunde, etwas zu besitzen oder etwas zurückzubekommen, wenn man genug Zeit investiert. Im Geschäftsumfeld würde man hier von "ROI" (Return of Investment) sprechen. So meinen sie, wenn sie achtsam sind oder meditieren, dann erhalten sie etwas zurück, werden ruhiger, erfolgreicher, glücklicher oder was auch immer. Es geht aber eben darum, nicht aus einer Haltung heraus zu handeln oder eine Gegenleistung zu wollen, sondern erst loszulassen oder einfach zu geben. So wie die Sonne: Sie scheint für jeden und alles gleichermaßen, ohne dafür etwas zurück zu erwarten. Und was zurückkommt, ist meistens überwältigend! Ajahn Chahs berühmtes Zitat bringt es auf den Punkt: "Wenn du etwas loslässt, bist du etwas glücklicher. Wenn du viel loslässt, bist du viel glücklicher. Wenn du ganz loslässt, bist du frei."

Helga König: Werden Sie inhaltlich verstanden, wenn Sie Ihren Lesern einen Satz wie diesen "Spiritual teachings are strategies. They are neither the absolute truth nor to be found in the words. What is important is the unconditional love and compassion from which the teachings flow." entgegenbringen, wie reagieren Menschen auf diesen Satz?

 Prof. Rahman Jamal
Foto: privat
Prof.  Rahman Jamal: Das kann ich nicht genau beantworten, ob das alle in dieser Tiefenschärfe verstehen. Aber es reicht für mich zunächst auch, wenn solche Aussagen, die mir eher spontan einfallen, zum Innehalten anregen und die Leser dazu animieren, sich vielleicht etwas ausführlicher damit zu beschäftigen. Beispielsweise bei dem Zitat, das Sie eben erwähnten: Viele halten ihre spirituellen Lehren, die es wie Sand am Meer gibt, für die Wahrheit schlechthin. Und genau das ist etwas, was zu Hybris führt – und zwar zu einer spirituellen Hybris. Für mich sind spirituelle Lehren mögliche Wege, die auf unterschiedlichen Strategien basieren. Sie sind weder die absolute Wahrheit, noch kann die Wahrheit in den Worten der Lehre gefunden werden. Was aber wichtig ist, sind die bedingungslose Liebe und das Mitgefühl, aus denen die Lehre herausströmt. 

 Helga König
Helga König: Wenn wir Menschen bedingungslos, alles, was ist, lieben, besteht dann noch ein Grund, etwas zu verändern?

Prof. Rahman Jamal: Na ja, nur weil jeder all das, was ist, liebt, heißt es ja noch lange nicht, dass alles gut ist und dass es nicht dennoch Grund für Veränderungen gibt. Selbst, wenn wir annehmen, dass es kein vom Menschen verursachtes Leid gibt wie durch Hass, Krieg, Umweltsünden usw., wird es immer Bedürftige geben: Menschen, die schwer krank sind, mit dem Verlust einen lieben Menschen zurechtkommen müssen oder z. B. aufgrund von Naturkatastrophen alles verloren haben. Mitfühlend auf andere zuzugehen heißt, zu erkennen, was Der- oder Diejenige braucht und entsprechend zu handeln – und das bedeutet eben manchmal Veränderung. 

Helga König: Sie sagen, die Sprache des Herzens sei universell. Ist die kleine Sonnenblume, die Sie vielen Ihrer tiefgründigen Tweets beigefügt haben, ein Ausdruck der Sprache Ihres Herzens?

 Prof. Rahman Jamal
Foto: privat
Prof. Rahman Jamal: Die Sonnenblume ist für mich ein Symbol für das Sonnenhafte, das Licht, das alles durchströmt. Ich hätte genauso gut eine Sonne nehmen können, aber die Sonnenblume wird von der Sonne ernährt und gefällt mir einfach. Wenn Sie so wollen, sind wir alle kleine Sonnenblumen und spiegeln das Sonnenhafte wider. Um ihre Frage zu beantworten: Ja, natürlich – alle meine Handlungen kommen aus dem Herzen, auch die kleine Sonnenblume! Dass etwas aus dem Herzen kommt, ist genau das, was Achtsamkeit ausmacht.


Lieber Prof. Rahman Jamal, ich danke Ihnen vielmals für dieses wirklich aufschlussreiche Gespräch .

Herzlich  Ihre Helga König

https://twitter.com/RahmanNow

Helga König im Gespräch mit Dr. Gertrud Müller, Soziologin, Verhaltenswissenschaftlerin, Psychoonkologin

Liebe Gertrud Müller, Sie sind Soziologin, Verhaltenswissenschaftlerin, Psychoonkologin, und wurden in Philosophie an der LMU München zum ...